Turm der Lügen
herumtreibt. Eben ist es mir gerade noch gelungen, das Mündel meines Vaters vor Schaden zu bewahren. Es wäre vielleicht ratsam, die Händler, deren Waren Ihr begehrt, in Euren Palast zu bestellen.«
»Was ist geschehen?«, mischte Jeanne sich ein und schüttelte Blanche ab, die sie behindern wollte. »Wo hast du gesteckt, Séverine? Du solltest an meiner Seite bleiben.«
»Das Mädchen ist Eures Vaters Mündel?« Marguerites Mund blieb offen stehen, dann unterbrach sie Jeannes besorgte Fragen mit einer herrischen Geste. »Wie das? Weshalb dient sie dann der Gräfin von Poitiers als Kammermagd?«
»Séverine wuchs in Faucheville auf, Majestät. Ich habe sie nach Paris gebracht, weil es nicht länger konvenabel für sie war, dort zu bleiben. Die Gräfin hat sich freundlicherweise bereit erklärt, das Mädchen bis zu ihrer Verehelichung bei sich aufzunehmen und zu erziehen. Sie gehört jedoch zu unserer Familie, und sie steht unter meinem persönlichen Schutz. Sie dient Eurer Schwägerin aus Freundschaft und Zuneigung, nicht zum Broterwerb.«
Er konnte sich ausrechnen, was Marguerite dachte.
Warum hatte Jeanne ihr das nicht gesagt? Adriens Vater, der Vormund Séverines? Der Baron zählte zu den getreuesten Gefolgsmännern ihrer Tante, Mahaut von Artois. Sich wegen dieser Kleinen mit ihr anzulegen wäre ein grober Fehler. Und Adrien, sicher war er Mitwisser und in alles eingeweiht, war ein unkalkulierbares Risiko. Er diente Jeannes Gemahl mit derselben Treue wie sein Vater dem König und Mahaut.
»Dann seid so freundlich und begleitet uns und Euren Schützling, mein Freund«, entgegnete sie bewundernswert gefasst. Niemand verstand es wie sie, die eigenen, eiligen Gedankengänge zu verbergen.
Adrien nahm an. Zur Enttäuschung des Pelzhändlers verlor die Königin unvermittelt das Interesse an seinen Marderfellen und wandte sich anderen Ständen zu.
Adrien machte gute Miene zu diesem Spiel.
»Und nun?«, flüsterte Séverine und sah fragend zu ihm auf, während sie scheinbar unbesorgt nebeneinandergingen. In ihrem Blick lag trotz allem bedingungsloses Vertrauen.
»Nun suchst du dir eines dieser kleinen Gürteltäschchen aus«, gab er sich betont unbeschwert. »Ich habe dir noch nie ein Geschenk gemacht. Es ist an der Zeit, das Versäumnis nachzuholen.«
»Mir reicht deine Zuneigung. Sie ist mir wichtiger als irgendein Tand.«
»Du hast sie. Auf immer.«
Séverine stockte der Atem. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute Adrien an. Nie zuvor hatte sein Aussehen Bedeutung für sie besessen. Sein Handeln, seine Freundschaft, sein Wohlwollen waren ihr wichtig gewesen, niemals seine Erscheinung. Nun verglich sie ihn zum ersten Mal bewusst mit anderen Männern seines Standes. Er besaß die gleichen Farben wie die Brüder Aunay, aber das Blau seiner Augen war dunkler, die Haare nicht golden, sondern von der Farbe reifen Weizens. Größe und Schulterbreite waren ähnlich, aber im Gesichtsausdruck unterschieden sie sich erheblich. Während Gautier und Philippe auf sie nichtssagend und eitel wirkten, fand sie Adrien faszinierend, männlich, anziehend. Sie konnte den Blick nicht abwenden. Erst als Jeanne zu ihnen trat, kam sie errötend zu sich. Was war in sie gefahren?
Da Marguerite und Blanche am Stand einer Weißnäherin plauderten, nutzte Jeanne die Gelegenheit, ungestört mit Adrien zu sprechen. »Ich bin Euch dankbar, dass Ihr Séverine vor dem Pöbel beschützen konntet.«
Adrien verneigte sich stumm.
Jeanne, in ihrem grenzenlosen Glauben an das Gute, dachte sicher, dass es sich um einen harmlosen Zwischenfall gehandelt hatte. Sie würde nie begreifen, wozu ihre Schwägerin fähig war.
»Ihr seht erschöpft aus, Madame«, sagte er bedächtig. »Wäre es nicht an der Zeit, diesen Ausflug zu beenden? Euer Gemahl und seine Brüder sind beim König. Wollt Ihr sie nicht aufsuchen?«
Er gewann Jeanne für seinen Vorschlag. Marguerite und Blanche blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Sie wahrten das Gesicht und entließen das Gefolge und ihre geschätzten Kavaliere. Ehe sie in den Privatgemächern des Königs verschwanden, bat Adrien Jeanne darum, ihn zu entschuldigen. Er wolle Séverine sicher nach Hause bringen.
Da niemand sie hören konnte, fügte er leise hinzu: »Wollt Ihr die Gelegenheit nutzen und Euch Eurem Gemahl anvertrauen?«
Jeanne schüttelte energisch den Kopf. »Ihn beschwert in diesen Tagen ohnehin so viel. Ich möchte ihn nicht damit belasten, seine Brüder über die Untreue ihrer
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