Turm der Lügen
gebracht hatte. Das tat nur ihre Mutter, die nicht müde wurde, sie dafür zu schelten. Dass sie selbst erst nach langen Jahren der Ehe einem Sohn das Leben geschenkt hatte, schien sie vergessen zu haben. Was würde sie machen, wenn die Neuigkeiten aus Maubuisson sie erreichten?
Beide Töchter und die Nichte, auf die sie solche Hoffnungen gesetzt hatte, waren in Ungnade gefallen. Nicht länger waren sie die edelsten Damen des Reiches, sondern Ehebrecherinnen, Dirnen, der allgemeinen Verachtung preisgegeben.
Würde ihr findiger Kopf einen Ausweg wissen? Jeanne traute ihrer Mutter viel zu, aber Wunder würde auch sie nicht bewirken können.
* * *
Séverine trat vorsichtig über die Türschwelle, benommen von all den Ereignissen, die so unerwartet über sie hereingebrochen waren. Adriens Quartier war wesentlich schlichter als Jeannes Unterkunft. Ein quadratisches Gemach. Das einzige Fenster gab den Blick auf den Fluss frei. Normalerweise teilte Adrien das Zimmer mit einem Ritter. In dieser Nacht hatte er wohl einen anderen Schlafplatz für ihn gefunden.
»Setz dich.« Er hielt Séverine einen hochlehnigen gepolsterten Stuhl bereit. Besorgt stellte er fest: »Du siehst aus, als würdest du jeden Augenblick in Ohnmacht fallen.«
»Ich fühle mich auch so«, gab Séverine zu.
Der Raum drehte sich vor ihren Augen. Sie setzte sich und schloss die Lider. Adrien konnte den Blick nicht von ihr lassen. Sie war so bleich, dass er die vermissten Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken wiederentdeckte. Trotz allem, was sich ereignet hatte, wich das Verlangen nicht aus seinem Körper. Julien hatte im letzten Augenblick einen Kuss verhindert. Einerseits war er dankbar, anderseits zürnte er dem Knappen.
Séverine schlug die Augen wieder auf, als er ihre Hände nahm und sie vorsichtig um einen Becher schloss.
»Trink, damit du wieder Farbe ins Gesicht bekommst«, forderte er sie auf. »Und entspanne dich. Bei mir hier bist du in Sicherheit.«
»Müsste ich nicht bei Jeanne sein? Ich gehöre in ihren Haushalt. Vielleicht wird sogar nach mir gesucht?«
»In diesem Fall ist es noch wichtiger, dass du dich versteckt hältst«, behauptete Adrien. »Gedulde dich, bis ich mehr über die Ereignisse herausgefunden habe.«
Seine beruhigenden Worte zeigten kaum Wirkung. Séverine nippte an ihrem Wein. Der Tonbecher klirrte gegen ihre Zähne, weil sie am ganzen Leib zu zittern begann.
Adrien entging es, er hatte sich zum Gehen gewandt. »Ich will versuchen, ein paar Worte mit Philippe zu wechseln. Beunruhige dich nicht, wenn ich länger fort sein sollte.«
»Du willst mich alleine lassen?«
Der Becher flog davon. Séverine sprang alarmiert auf und stellte sich mit dem Rücken vor die Tür. Die Arme abwehrend ausgestreckt, begegnete sie flehend seinem Blick.
»Das kannst du nicht tun. Was ist, wenn der König seine Männer schickt, um mich ebenfalls unter Arrest zu nehmen?«
»Warum sollte er das tun? Deine Angst ist unbegründet. Niemand weiß, dass du hier bist. Außerdem lasse ich Julien zu deinem Schutz zurück. Sobald ich klarer sehe, komme ich zurück, dann machen wir Pläne.«
Pläne? Welche Pläne?
Séverine ließ ergeben die Arme sinken und schwankte.
Adrien erriet, was in ihr vorging. Sein Mitgefühl ließ ihn die gebotene Zurückhaltung vergessen. Er fasste sie an den Schultern und zog sie beschützend an sich. Ihr Kopf sank gegen seine Brust. Er unterdrückte mit aller Macht den Wunsch eines innigen Kusses. Er zwang sich zu brüderlicher Distanz.
»Du musst völlig erschöpft sein, Séverine. Die Reise, der Unfall und die Ereignisse des heutigen Abends, all das war zu viel. Leg dich nieder und versuche, wenigstens die Augen zu schließen, wenn du schon nicht schlafen kannst. Julien wird vor der Tür wachen. Vielleicht gelingt es dir, ein bisschen Ruhe zu finden, während ich unterwegs bin.«
Obwohl sie nichts von Schlaf hören wollte, setzte Adrien seinen Willen durch. Er nötigte sie auf den schlichten Alkoven und breitete eine warme Pelzdecke über ihr aus. Dass sie tatsächlich unmittelbar darauf in einen unruhigen Schlaf gesunken war, bemerkte sie erst, als sie von gedämpften Männerstimmen geweckt wurde.
Einem Moment völliger Orientierungslosigkeit folgte das Begreifen. Adrien war zurück!
Hastig setzte sie sich auf und rieb sich das Gesicht mit den Handflächen, um schneller zu sich zu finden. Wie viel Zeit war vergangen? Es gab keine Stundenkerze im Raum. Durch das Stabwerk des Fensters konnte sie nur
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