Turm der Lügen
unerwarteten Welle des Zorns heimgesucht.
Das fehlt noch, dass ich eifersüchtig auf meinen Knappen bin,
schoss es ihm durch den Kopf, während er den Fluch hinunterschluckte, der ihm um ein Haar entschlüpft wäre.
Bin ich jetzt auch verrückt geworden?
»Sieh nach, ob du in der Küche eine Morgenmahlzeit auftreibst, Julien«, brach er die Stille. »Es ist nichts gewonnen, wenn wir vor Hunger und Durst nicht mehr denken können. Und zu niemand ein Wort davon, dass Séverine hier ist. Haben wir uns verstanden?«
Nachdem sich die Tür hinter Julien geschlossen hatte, zog Séverine zaghaft eigene Schlüsse: »Muss ich mich für den Rest meines Lebens verstecken?«
»Gewiss nicht.« Adrien versuchte, überzeugend zu klingen. »Du solltest lediglich in der jetzigen Situation keine unnötige Aufmerksamkeit auf dich lenken. Sobald wir wissen, was der König entscheidet, bringe ich dich an einen sicheren Ort.«
»Und wo ist dieser Ort?«
Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, gab sie auch schon selbst die Antwort: »Am liebsten würde ich nach Faucheville gehen. Dort bin ich zu Hause. In Faucheville kann mir nichts passieren.«
»Faucheville«, wiederholte Adrien nachdenklich, um Zeit zu gewinnen. Er verstand ihre Sehnsucht nach der vertrauten Heimat. Die Tage ihrer Kindheit, die trotz allem eine Zeit der Arglosigkeit und des Friedens für sie gewesen waren, mussten ihr an diesem Morgen im rosigsten Licht erscheinen. Aber ihre Kindheit war vorüber.
Sein Blick reichte Séverine als Antwort. Sie begriff, was er nicht aussprach.
Sie war nicht länger Loup Gasnays unerwünschte Tochter, die Pferdeställe ausmistete und Elvire in der Küche zur Hand ging. Zu viel war in den letzten Wochen und Monaten geschehen. Ihr Blick auf die Welt war ein anderer geworden. Sie dachte, sprach, kleidete und bewegte sich wie eine andere. Wer war diese andere Séverine?
»Ich habe alles getan, worum du mich gebeten hast, obwohl ich nie einen Sinn darin gesehen habe. Ich wollte nur deine Zuneigung. Und was hat es mir gebracht? Sag mir, wo gehöre ich hin? Wer bin ich?«
Es war unmöglich, ihr ausgerechnet in dieser Situation die Wahrheit zu sagen.
Séverine sah ihn durchdringend an. »Warum gibst du mir keine Antwort?«
»Weil es keine gibt.«
»Du lügst.«
* * *
Der König war über Nacht gealtert. Nie zuvor hatte Philippe diesen mächtigen Mann so zermürbt erlebt. Die regelmäßigen Züge, die ihm in jungen Jahren den Beinamen
der Schöne
eingetragen hatten, waren welk und verwüstet, die Lippen schmal, die Nase sprang scharf hervor. Wie er da in seinem schweren Stuhl kauerte, das Kinn in den aufgestützten Handballen gelegt, die Augen hinter schweren Lidern halb verborgen, erschien er ihm wie ein Schatten seiner selbst.
Auch Louis beobachtete seinen königlichen Vater eindringlich. Philippe glaubte zu wissen, was dem Bruder durch den Kopf ging. Wie lange noch? Wann werde ich die Krone tragen?
Sein Bruder war zerfressen von Machtgier. Er wollte ein besserer König sein als sein Vater, ein erfolgreicherer Feldherr, ein beliebterer Herrscher. Ein wahrer Nachkomme des Heiligen Louis, der Frankreich so erfolgreich regiert hatte. Philippe wusste nur zu gut, dass er weder den Charakter noch die Fähigkeiten dazu hatte.
Er verließ sich allein auf Erbe und Rang. Dass er im Grunde seines Herzens selbst an seinen Fähigkeiten zweifelte, verbarg er hinter einem unberechenbaren und launischen Wesen. Dass er es kaum erwarten konnte, Rache zu üben, zeigte sich jetzt. Er riss das Gespräch geradezu an sich.
»Nun, wir haben gehört, was im Protokoll der Vernehmung aufgezeichnet wurde. Wir wurden schmählich betrogen. Sprecht ein Urteil über die drei Ehebrecherinnen und die Schurken, die Euren königlichen Söhnen Hörner aufgesetzt haben, Vater!«
»Du vergisst, es sind nur zwei Ehebrecherinnen«, widersprach Philippe zornig. »Du hast kein Recht, auch Jeanne zu beschuldigen.«
»Findest du?« Louis bleckte höhnisch seine gelben Schneidezähne. »Wer hat dem Rendezvous im
Tour de Nesle
mit Schweigen Vorschub geleistet? Wer hat den Leichtsinn und die Ausschweifungen gedeckt, während wir ahnungslos blieben? Deine Gemahlin, Bruder! Sie sind allesamt schuldig. Alle drei sind sie gemeine Dirnen!«
Philippe streifte Louis mit einem verächtlichen Blick und wandte sich an seinen Vater.
»Ich entdecke in diesem Protokoll keinen Grund, Jeanne zu verurteilen, Sire.« Er wählte absichtlich die offizielle Anrede. »Weder Gautier noch
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