Turm der Lügen
verlangt, nicht Gefallsucht und Tändelei«, wies Mutter Geneviève sie zurecht.
Marguerite konzentrierte ihren ganzen Abscheu auf die verhasste Schwägerin. Isabelle stand hinter den Nonnen und allem, was sie ihnen antaten.
»Den Gefallen zu heulen und zu winseln werde ich dieser Hexe niemals tun. Nicht ich. Und wenn du einen guten Rat willst, Blanche, dann solltest du dich ebenfalls beherrschen. Egal, was es dich kostet.«
»Marguerite hat recht.« Jeanne ging zu ihrer Schwester und zog ihr sanft die Haare aus den Fingern. »Wir werden Isabelle diese Genugtuung nicht gönnen. Wir sind die Töchter des Pfalzgrafen von Burgund, und unsere Mutter hat uns Haltung gelehrt. Erinnere dich daran, Schwester.«
Mutter Geneviève nickte zufrieden und ging zur Tür.
»Wir sind bereit«, vernahm Jeanne ihre Stimme.
Bereit wozu?
* * *
Der Kapitelsaal, wie der große Versammlungssaal des Schlosses von Maubuisson genannt wurde, fasste kaum all die Menschen, die sich in ihm drängten. Edeldamen, Aristokraten, Ritter, Kirchenfürsten, Heerführer, königliche Beamte und die englischen Gäste hatten sich auf Geheiß des Königs an diesem trüben Frühlingstag unter der Gewölbedecke versammelt. Alle verharrten in unbehaglichem Schweigen.
Von Adrien geschützt, verlieh Séverine das Rund einer gedrungenen Säule im Rücken Halt. Sie musste sich auf Zehenspitzen recken, um das Drama zu verfolgen, das sich vor ihren Augen abspielte. An der Stirnseite des Saales, auf einem leicht erhöhten Podium, saß der König auf einem geschnitzten Thronsessel. Angetan mit Purpur und Krone, völlig reglos, eine Statue.
Im freien Raum vor dem Thron standen die drei Schwiegertöchter des Königs, deren erbarmungswürdiger Anblick alle Anwesenden so bestürzte, dass keiner auch nur zu flüstern wagte. Die Köpfe verletzlich bloßgeschoren, die adligen Gesichter zur Maske erstarrt, hielten die drei Frauen kerzengerade und schweigend der allgemeinen Neugier stand. Wie lange noch?
Es tat Séverine in der Seele weh, ihre Herrin so gedemütigt zu sehen. Jeanne war kreidebleich. Über ihren Brauen trocknete eine Blutspur. Dennoch beugte sie nicht den Nacken. Aufrecht und stolz bot sie allen im Saal die Stirn. Philippe, der wie seine Brüder und Isabelle an der Seite des Königs saß, starrte vor sich auf den Boden und ließ kein Gefühl erkennen.
Was ging in Jeanne vor – was in Philippe?
Marguerite glich sogar in dieser Aufmachung eher einer Kriegerin als einer Angeklagten. Sie sah aus, als brenne sie darauf, das Schwert zu zücken. Kein Auge ließ sie von Isabelle. Ob die englische Königin Angst vor diesen zornigen Blicken verspürte? Séverine hätte sich geängstigt an ihrer Stelle.
Für Blanche, von Kindheit daran gewöhnt, als Schönste und Charmanteste bewundert zu werden, bedeutete der Verlust des Haares den Verlust ihrer Persönlichkeit. Die flehenden Blicke auf Charles gerichtet, der immer unruhiger auf seinem gepolsterten Hocker hin und her rückte, rang sie die Hände.
Nach einer entgeisterten Erwiderung ihres ersten Blickes wagte er keinen zweiten, so sehr löste ihr Anblick Entsetzen und Abscheu in ihm aus. Nur die unnachgiebige Gestalt seines Vaters hielt ihn davon ab, aus dem Saal zu stürzen. Blanche konnte keine Hilfe von ihm erwarten. Er hatte sie bereits aus seinem Leben gestrichen.
Der scharfe Klang einer Fanfare zerriss das lastende Schweigen. Die schleppende Stimme des königlichen Kanzlers, Enguerrand von Marigny, erhob sich, das Urteil zu verlesen. Ohne erkennbares Gefühl zählte er nüchtern Anklagen, Beweise, Tatsachen und Umstände auf.
So und nicht anders stellte sich Séverine den Tag des jüngsten Gerichtes vor. Unbarmherzig. Erschreckend in seiner schonungslosen Gerechtigkeit. Der Kanzler ersparte ihnen keine noch so demütigende Einzelheit des Geständnisses, das Gautier und Philippe von Aunay mit Hilfe des Henkers von Pontoise gemacht hatten.
»… somit haben Marguerite und Blanche von Burgund die Verbrechen der Unkeuschheit und des Ehebruchs begangen. Sie haben die Ehre des Königshauses in den Schmutz gezogen und gegen die Gebote der Heiligen Mutter Kirche verstoßen. Es ist mein königlicher Wille, dass ihnen Gelegenheit gegeben wird, dieses zu büßen und zu bereuen. Sie sollen ihr Leben künftig hinter den Mauern einer königlichen Festung bei Gebet und Einkehr verbringen. Fürderhin ist es ihnen nicht erlaubt, Besuche zu empfangen, Botschaften zu versenden oder unter freiem Himmel zu wandeln.
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