Turm der Lügen
dich geboren.«
Adrien ließ ihr Zeit, sich zu sammeln. Stumm sah er zu, wie sie sich grübelnd auf den nächsten Hocker fallen ließ. Er musste nicht lange auf die nächsten Fragen warten.
»Wie komme ich nach Faucheville, wenn ich in Wirklichkeit die dritte Tochter des Pfalzgrafen von Burgund bin? Wer hat mich zu einem Dasein als Loup Gasnays Tochter verurteilt?« Sie stieß einen unwilligen Laut aus und gab sich die Antwort selbst. »Auch das war Mahaut, nicht wahr? Nur sie kann einem Menschen so etwas antun. Was hat sie dazu veranlasst? Warum hat sie mich verstoßen? Welcher Makel belastet meine Geburt?«
»Der Makel, eine Frau zu sein.«
»Sie ist selbst eine Frau. Es ist einfach nicht zu fassen«, gab Séverine zurück.
»Ihr Mann hoffte sehnsüchtig auf einen Erben. Sie wusste, dass es ihre höchste Pflicht war, diesen Erben zur Welt zu bringen. Frauen, die nur Töchter gebären, sind unwert. Man schiebt sie in ein Kloster ab, annulliert die Ehen mit ihnen. Du erlebst doch Tag für Tag, unter welchem Druck Jeanne und die beiden anderen stehen. Das ganze Königreich wartet auf ihre Söhne. Nur Söhne zählen. Mahaut wollte in keinem Fall abgeschoben werden.«
»Das mag sein, aber wie herzlos muss eine Mutter sein, die ihr eigenes Kind verstößt. Was kann eine Frau dazu bringen?«
»Ehrgeiz, Machtgier, Angst.«
Seine knappe Antwort entlockte ihr ein verächtliches Schnauben.
»Angst? Mahaut verbreitet Angst, aber sie verspürt keine. Bei dem Gedanken, sie zur Mutter zu haben, wird mir übel, aber vermutlich muss ich dankbar dafür sein, dass sie mein Leben verschont hat. Woher nahm Mahaut den Sohn, der meinen Platz …«
Loups Vorwürfe schossen ihr durch den Kopf. Plötzliches Begreifen ließ sie verstummen. Mit einem Schlag konnte sie seine Trunksucht, sein Elend und seine Abneigung nachfühlen. Der Sohn, der durch seine betrunkenen Phantasien geisterte, war ihm tatsächlich genommen worden.
»Ich sehe, du verstehst.« Adrien fühlte sich nicht wohl dabei, Mahaut zu verteidigen, und doch fand er es wichtig, Séverine ihr Verhalten zu erklären. »Ich kann dir nicht sagen, wie es Mahaut gelungen ist, dich mit dem Sohn ihrer Kammerfrau zu vertauschen, aber es kam nie der Verdacht auf, dass damals nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Umso mehr, als der Knabe, den sie erfolgreich als den ihren ausgegeben hat, den darauffolgenden Winter nicht überlebte. Du solltest unter dem Schutz meines Vaters, in Faucheville, als Tochter von Loup und seiner Frau aufwachsen.«
»Aber die starb doch angeblich bei meiner Geburt … ich meine, bei seiner Geburt … das alles macht mich ganz wirr.« Séverine rieb sich die Stirn. »Ich wollte dich nicht unterbrechen, sprich weiter.«
»Die Amme die dich nährte, erwähnte, dass deine Mutter Tage nach deiner Geburt am Kindbettfieber gestorben ist. Genaueres werden wir wohl nie in Erfahrung bringen. Mahaut hat ihr Bestes getan, die Umstände der Tat zu verschleiern. Mein Vater zählt zu ihren ergebensten Gefolgsleuten. Ihm konnte sie damals wie heute bedingungslos vertrauen. Sie hat alles Weitere ihm überlassen.«
»Mahaut von Artois meine Mutter, ein fürchterlicher Gedanke …«
Séverine musste es noch einmal aussprechen, um die unfassbare Tatsache zu begreifen. Das Gefühl tiefer Abneigung, das sie schon bei der ersten Begegnung für diese Frau empfunden hatte, erwachte neu aus dem Unterbewusstsein.
»Wusste deine Mutter davon?«
Die Vorstellung, dass die einzige Frau, die ihr je so etwas wie mütterliche Liebe entgegengebracht hatte, in den Betrug eingeweiht gewesen sein sollte, wühlte Séverine zusätzlich auf.
Sie war sichtlich erleichtert, als Adrien seine Mutter von dem Verdacht freisprach.
»Nur Loup und mein Vater wissen wirklich, was genau in Dourdan passiert ist. Ich selbst bin auf Vermutungen angewiesen, aber deine unverkennbare Ähnlichkeit mit Jeanne hat meine letzten Zweifel beseitigt. Du bist Mahauts und nicht Loups Tochter.«
»Diese Frau ist ein Ungeheuer.« Séverine widerstrebte es, noch einmal Mahauts Namen zu nennen. »Ich will nichts mit ihr zu schaffen haben. Niemals. Warum hast du mich nicht eine ahnungslose Stallmagd bleiben lassen? Ich war glücklich.«
Es war zu viel. Schluchzend klammerte Séverine sich an Adrien.
»Bring mich fort«, hörte er sie murmeln. »Egal wohin, nur fort. Ich kann nicht hier bleiben. Ich will nichts mit ihnen allen zu tun haben.«
Erschüttert strich er über ihren Rücken. Er hatte das
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