Turm der Lügen
ist mit Jeannes Wunde im Gesicht? Kann man denn gar nichts tun? Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. In meinem Kopf dreht sich alles.«
Ihr verzweifelter Aufschrei erschütterte Adrien noch mehr. Was war aus dem unbeschwerten Mädchen geworden, das er nach Paris gebracht hatte?
»Ich kann so wenig helfen wie du«, gab er schließlich zu und verschränkte die Hände im Rücken, um nicht in Versuchung zu kommen, ihr die Tränen zu trocknen, was sie womöglich zusätzlich verwirrt hätte. »Lass uns gemeinsam überlegen, welche Möglichkeiten uns einfallen, ihr beizustehen. Ich fürchte nur, es sind nicht sehr viele.«
Schweigen senkte sich über den Raum.
»Dann ist es also vorbei.«
Séverines erstickte Bemerkung brachte die lastende Stille ins Bewusstsein. Ihre Tränenflut war versiegt, aber sie hatte Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Sie protestierte nicht länger leidenschaftlich, sondern bemühte sich um logische Schlüsse.
»Der König ist die höchste Instanz der Rechtsprechung. Mit der Vernichtung der Templer hat er gezeigt, dass sich sogar der Heilige Vater seinem Willen unterwerfen muss. Niemand kann gegen den königlichen Willen etwas für Jeanne tun. Das Urteil verbannt sie und beendet ihr Leben ebenso wie das ihrer Schwester und Base. Der Makel des Ehebruchs, ob bewiesen oder nicht, wird für immer an ihr haften. Wie ungerecht das doch ist.«
Séverines Zusammenfassung der Lage war nüchtern, aber die leidenschaftliche Anklage in ihrer Stimme, ließ Adrien eine Warnung anfügen.
»Wir müssen es hinnehmen.«
»Wieso nur musste alles so kommen?«
Séverine wusste um die Sinnlosigkeit dieser Frage, aber etwas tief in ihr wollte nicht stumm bleiben. Die Worte brachen aus ihr heraus.
»Sage mir, warum ich das hier alles auf mich nehmen muss. Warum musste ich Faucheville verlassen? Warum hast du mich zu Jeanne gebracht? Es muss etwas mit meiner Herkunft zu tun haben. Mit meinem Vater, dessen Namen du mir beharrlich vorenthältst. Eine andere Erklärung kann ich nicht finden. Wer sind meine Eltern? Nenn mir ihre Namen. Wenigstens diese Aufklärung schuldest du mir.«
Adrien zog den Kopf ein. Séverine hatte natürlich recht. Er schuldete ihr diese Auskunft, darin stimmte er ihr zu. Wie sollte sie sonst das volle Ausmaß der Schwierigkeiten begreifen, in denen sie sich befand. Aber den Eid zu brechen, den er, geschmeichelt von dem Vertrauen, das ihm sein Vater damals entgegengebracht hatte, auf die Bibel geschworen hatte, fiel ihm dennoch schwer.
Séverine verfolgte seinen inneren Kampf. Dieses Mal würde sie nicht locker lassen, sich nicht mit einer belanglosen Auskunft abspeisen lassen. Impulsiv sprang sie von ihrem Stuhl auf.
»Sprich!« forderte sie heftig. Sie fühlte, dass er ihr in diesem Augenblick auf seltsame Weise unterlegen war. »Dein Schweigen ist Verrat an mir. Du hast mir, seit ich Faucheville verlassen musste, nur Kummer beschert, statt mir, wie versprochen, Schutz zu gewähren. Meinst du nicht, es ist an der Zeit, endlich die Wahrheit zu sagen?«
»Ich habe geschworen, zu schweigen.«
»Wem? Etwa deinem Vater? Oder gar dem König?« Ihr war klar, dass es eine mächtige Person sein musste, wenn er sogar jetzt noch zögerte. Sie reckte das Kinn und hielt seinen Blick fest. »Sind sie daran schuld, dass ich mich fragen muss, wer ich in Wirklichkeit bin?«
»Nein. Ich bin mir sicher, dass Mahaut die Schuldige ist.«
Im ersten Augenblick reagierte Séverine nicht auf den Namen. Doch dann – sie musste sich vergewissern – fragte sie: »Mahaut? Mahaut von Artois? Was hat sie mit mir, was soll ich mit ihr zu tun haben?«
»Ihr hast du deine Ähnlichkeit mit Jeanne zu verdanken.«
»Ihr? Wieso ihr? Marguerite verdächtigte doch den Pfalzgrafen von Burgund, mein Vater zu sein.«
»Das ist er. Seine ihm angetraute Ehefrau, Mahaut, hat auch dich zur Welt gebracht.«
Séverine hatte Ungeheuerliches an diesem Tag erlebt. Sie hätte nicht gedacht, dass es etwas vergleichbar Ungeheuerliches überhaupt geben könnte. Welcher Irrtum! Wie vor den Kopf geschlagen, versuchte sie Fassung zu bewahren. Mahaut von Artois ihre Mutter?
»Dann … dann wäre ja Jeanne meine Schwester, und Blanche auch«, stammelte sie fassungslos. »Das kann ich … trotz aller Ähnlichkeit …«
»Du musst mir glauben. Du bist am Martinstag des Jahres 1297 in Dourdan zur Welt gekommen. Man hat behauptet, Lise, Mahauts Kammerfrau und Loups Frau, wäre deine Mutter. Aber das stimmt nicht. Mahaut hat
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