Turm der Lügen
wenigstens einen Wunsch erfüllen zu können, nickte Philippe sofort. »Ich will mein Möglichstes tun. Wo finde ich sie? Bei den Damen deines Hofstaates?«
»Eher bei Adrien Flavy. Sie ist ein Mündel seines Vaters, und er hat sie meiner Obhut anvertraut. Vermutlich hat sie sich in diesen schlimmen Stunden an ihn gewandt. Frage deinen Ritter nach ihr.«
»Das werde ich tun. Übrigens: Diese Séverine gleicht dir so augenfällig. Gibt es da irgendein Geheimnis, das ich nicht kenne?«
»Wenn, dann ist es eines, das auch mir bisher verborgen geblieben ist«, seufzte Jeanne. »Ich habe auf Adrien vertraut, der mir geschworen hat, sie sei von makelloser Herkunft.«
Es war nicht der richtige Moment, das Herz auf der Zunge zu tragen, doch Abschiedsworte mussten gefunden werden. Philippes hagere Züge wirkten entstellt. Jeanne kannte ihn, in ihm tobte ein wilder Kampf.
»Ich werde dich schmerzlich vermissen«, hörte sie ihn kaum vernehmbar murmeln. »Gott schütze dich. Vertraue mir und auf den Herrn.«
Er küsste ihr die kühle Stirn und verließ fluchtartig die Kapelle.
Jeanne sah ihm regungslos nach, ehe sie stumm den Gekreuzigten über dem Altar anblickte. Kein Gebet kam über ihre Lippen.
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Neuntes Kapitel
D er Morgennebel stieg in Schwaden über der Stadt auf. Schaulustige sammelten sich um die hölzerne Plattform, die am Nachmittag zuvor in aller Eile auf dem Marktplatz von Pontoise errichtet worden war. Dass Edelmänner von Rang hingerichtet werden sollten, hatte sich in Windeseile herumgesprochen.
Mehr Bauern als sonst brachten ihre Waren in die Stadt und blieben zum Gaffen. Handwerker, Knechte, Fuhrleute und Hausfrauen ließen ihre Arbeit ruhen. Die ganze Stadt strömte zum Hauptplatz. Für den königlichen Hof waren dort Bänke aufgestellt, und für das engste Gefolge ihrer Majestät eine Tribüne errichtet worden.
Die Plätze auf dem königlichen Podest waren mit Stoff verkleidet und mit Kissen ausgelegt. Für einen schattenspendenden Baldachin hatte die Zeit indes nicht mehr gereicht. Schon wärmten erste Sonnenstrahlen die Köpfe. Eine fieberhafte Anspannung machte sich unter der Menge breit.
Die gemeinen Neugierigen beobachteten befremdet, wie die hohen Herrschaften in absoluter Schweigsamkeit ihre Plätze einnahmen. Die Stille war ansteckend, hielt sich unter dem Volk jedoch nicht lange. Schon bald wurden Zoten gerissen, eindeutige Gesten gemacht, und höhnisches Gelächter quittierte die schlechten Scherze.
Mit fassungslosem Staunen beobachtete Séverine, dass sich sogar Kinder bis an die Stufen des Gerüstes drängten, wo der Henker mit seinen Gehilfen reglos wartete.
Der Marktplatz von Pontoise war inzwischen schwarz vor Menschen. Ungeduldig warteten sie auf das Eintreffen der Hauptpersonen. Hausierer, Bäckerburschen mit Tabletts voller kleiner Kuchen, Mädchen mit gebundenen Veilchensträußen und Pastetenverkäufer drängten sich durch das Gewimmel und boten ihre Waren an.
Julien war es gelungen, ein Fenster im ersten Stock eines schmalen Fachwerkhauses für seinen Herrn und Séverine zu mieten. So konnten sie alles übersehen.
»Ich weiß, dass ich Jeanne nicht helfen kann. Aber ich möchte in ihrer Nähe sein«, hatte Séverine nach einer schlaflosen Nacht erklärt. »Alles in mir verlangt danach, ihr beizustehen. Vielleicht sieht sie mich, und es tröstet sie, dass ich mit ihr leide.«
Dem konnte Adrien schwer widersprechen.
In der guten Stube des Fassmacher-Hauses drängten sich die Neugierigen mittlerweile ebenso dicht wie auf dem Platz zu ihren Füßen. Adriens breiter Rücken schützte Séverine und hielt die anderen Zuschauer auf Distanz.
»Sie kommen! Sie kommen!«
Über das allgemeine Brausen der Menschenmenge hinweg flogen erste verständliche Rufe. Alle Köpfe wandten sich der Straße zu, die vom flusswärts gelegenen Stadttor zum Marktplatz führte. Mehrere Dutzend Reiter und Bewaffnete flankierten eine schwarzverhängte offene Karre. Auf dem quergelegten Sitzbrett saßen Jeanne, Marguerite und Blanche im Nonnengewand. Die Hauptleute kommandierten die Männer, die die Menge zurückdrängten und den Wagen neben der königlichen Tribüne zum Stehen brachten.
Séverine beugte sich so weit aus dem Fenster, dass Adrien sie besorgt festhielt.
Jeanne und Marguerite hatten Blanche in die Mitte genommen. Sie sahen scheinbar reglos über die Köpfe der Gaffer hinweg. Einige wurden inzwischen fast erdrückt im Gewühl. Jeder wollte einen Blick auf die Prinzessinnen
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