Turm der Lügen
erhaschen.
»Seht nur, die Ehebrecherinnen!«
»Dirnen! Huren!«
»Hängt sie mit auf!«
Das ohrenbetäubende Geschrei fing sich an den Hauswänden und brandete nach oben, so dass Séverine erschrocken zurücktrat.
»Hör nicht hin«, vernahm sie Adriens Worte neben ihrem Ohr. »Der Pöbel stachelt sich gegenseitig auf.«
Sie nickte wortlos. Wenn Jeanne, mit geradem Rücken und konzentriert in die Ferne gerichtetem Blick, dies alles ertragen konnte, dann musste sie sich ein Beispiel an ihr nehmen. Ihre große Schwester. Woher nahmen die Weiber dort unten das Recht, mit den Fingern auf sie zu zeigen und sie eine Ehebrecherin zu nennen?
»Die Aunays. Seht nur, sie bringen die Brüder Aunay.«
Julien hatte eine zweite Karre ausgemacht, die auf das Gerüst mit den beiden Galgen zuratterte. Zwei erbarmungswürdige Gestalten waren an die Seitenwände des Gefährts gefesselt. Die Hanfstricke dienten weniger dem Zweck, sie zu binden, als sie aufrecht zu halten. Der Anblick der Männer versetzte die Menge in fiebrige Erregung. Die Tatsache, dass sich der König nicht scheute, auch seinesgleichen dem Gericht auszuliefern, entschädigte seine Untertanen in diesem Augenblick für viele Ungerechtigkeiten, die ihnen in seinem Namen zugefügt worden waren.
Gautier und Philippe Aunay mochten den Tod verdienen. Die mörderischen Folterungen jedoch waren in Séverines Augen gotteslästerlich. Sie war entsetzt, dass es Menschen gab, denen diese Brutalität Genugtuung verschaffte.
»Die armen Teufel«, murmelte auch Adrien, als man die beiden aus dem Karren die Plattform hinaufzerrte.
Philippe Aunay stolperte, als er die Folterinstrumente des Henkers, säuberlich nebeneinander ausgerichtet, entdeckte. Dahinter ragten zwei riesige Räder empor. Die Lederriemen, die dazu dienten, die Opfer darauf festzuzurren, schwangen unheilvoll im Wind. Hysterie verbreitete sich unter den Zuschauern. Erste Schreie nach Blut wurden laut.
»Gott erbarme sich ihrer sündigen Seelen«, hauchte Séverine und bekreuzigte sich.
Sie sah, dass Jeanne die gleiche Bewegung machte. Blanches Schultern bebten erkennbar. Marguerite saß straff aufgerichtet, reglos. Ob sie sich an ihre Kammerfrau erinnerte, die sie in den Tod geschickt hatte? An ihre leichtsinnige Bemerkung, wie sehr sie es liebe, Hinrichtungen beizuwohnen? An Philippe Aunays Klage darüber, dass in diesen Zeiten aus jeder Hinrichtung ein Spektakel gemacht wurde?
Der Mönch, der die beiden Verurteilten zum Henker geleitet hatte, trat zurück und verließ die Hinrichtungsstätte. Der Scharfrichter nickte seinen Gehilfen zu, worauf die Männer den Verurteilten die besudelten Kleider abnahmen. Nackt und bloß setzten sie Gautier und Philippe dem Spott der Menge aus. Ihre Körper zeigten Spuren des Verhörs, obwohl man sie gewaschen und ihre Wunden versorgt hatte. Sie sollten dem Henker in einer Verfassung überstellt werden, die darauf hoffen ließ, dass sie ihre Qualen möglichst lange erlebten. Schon wurden auf dem Platz Wetten abgeschlossen, wie lange sie wohl durchhalten würden.
»Sieh nicht hin«, befahl Adrien, als die Folterknechte Philippe als Ersten packten. »Schließ die Augen.«
Séverine sah nach Jeanne, die ihren Blick gesenkt hatte und Blanche stützte. Ihre gemeinsame Schwester hatte den einzig möglichen Weg gefunden, sich zu entziehen. Sie war ohnmächtig geworden. Marguerite trug ein eingefrorenes, schreckliches Lächeln auf den Lippen.
Ein dumpfes Krachen, gefolgt von einem schier unmenschlichen Aufschrei, ließ sie allerdings erkennbar zusammenzucken. Die Henkersknechte begannen ihre Arbeit damit, den Brüdern die Glieder zu brechen, damit sie sie auf das Rad flechten konnten. Das Heulen der Menge steigerte sich zu infernalischer Lautstärke.
Das blutige Geschäft der Schergen nahm mit der Häutung der Verurteilten seinen Lauf. Ihre Schreie waren verstummt, was darauf schließen ließ, dass sie in eine gnädige Ohnmacht gesunken waren. Séverine hatte längst die Augen geschlossen. Sie wollte nicht sehen, wie ihnen mit eisernen Haken die Haut in Fetzen vom Leibe gerissen wurde.
»Ist es nicht bald zu Ende?«, fragte sie ängstlich, ihre Lider zuckten.
Ein schneller Blick auf die Szenerie warnte Adrien. Er wusste, was folgen würde. Er umfasste Séverine und drehte sie mit dem Rücken zum Fenster. Eimer voll Flusswasser spülten das Blut von den Holzplanken und sollten Philippe und Gautier noch einmal zu sich kommen lassen. Séverine sollte weder die blinkenden
Weitere Kostenlose Bücher