Turm der Lügen
übereilt vertraut. Dass ausgerechnet Séverine ihr Herz so schnell gewonnen hat, muss mehr als einen Grund haben. Mir drängen sich die abenteuerlichsten Vermutungen auf.«
»Die Wahrheit übertrifft sie alle«, sagte Adrien trocken.
»Behalte sie für dich«, wehrte Philippe ab. »Ich will nur, dass das Mädchen Jeanne auch weiterhin dient. Es soll ihr Schaden nicht sein.«
»Séverine wurde bereits mehr geschadet, als du dir vorstellen kannst«, widersprach Adrien. »Sie muss Pontoise verlassen. Ihre Sicherheit ist mein größtes Anliegen.«
»Für keinen von uns gibt es absolute Sicherheit, mein Freund. Wir sind alle in Gottes Hand. Er entscheidet, was mit uns geschieht. Zwing mich nicht, dich an deinen Treueeid zu erinnern. Ich gebe dir mein Wort, dass dem Mädchen kein Leid geschieht. Niemand wird ihr zu nahe treten.«
»Das kannst du nicht versprechen. Allein ihr Aussehen bringt Séverine in Gefahr. Mahaut wird sich ebenfalls um ihre Enkelkinder kümmern wollen. Wenn sie Séverine in deinem Hause begegnet, werden Fragen aufgeworfen, deren Antworten ihr nicht gefallen können.«
»Das heißt, sie hat ihre Finger im Spiel, und die Existenz deines Schützlings bedeutet eine Gefahr für sie«, murmelte Philippe nicht sonderlich überrascht. »Wenn dem so ist, dann müssen wir eben dafür sorgen, dass es nie zu diesem Treffen kommt. Nein, erkläre mir nichts, ich will keine Einzelheiten wissen. Mir ist klar, dass ein Geheimnis existiert, das besser nie gelüftet wird, weil sonst der nächste Skandal droht. Meine Bitte ist die, die dir ein Freund anträgt. Willst du mich im Stich lassen?«
Er hatte die richtigen Worte gefunden. Er hatte an Adriens Loyalität appelliert.
»In Gottes Namen – ich bin einverstanden«, gab er widerstrebend nach. »Nur eines bitte. Es geht Séverine nicht gut. Sie ist verängstigt. Die Ereignisse haben sie tief erschüttert. Erlaube mir, sie zum Treffen mit Jeanne zu begleiten. Es dient ihrer Beruhigung und ist kein Zeichen von Misstrauen. Wo soll es überhaupt stattfinden? Hat es nicht geheißen, die verurteilten Frauen sollten unmittelbar nach der Hinrichtung an den Ort ihrer Verbannung aufbrechen? Weißt du, wohin man sie schickt?«
»Nein. Sogar die Fuhrknechte und Soldaten, die sie begleiten, erhalten ihren Marschbefehl erst im Augenblick des Aufbruchs. Es ist mir jedoch gelungen, einen meiner Schildknappen bei den Reitknechten unterzubringen. Er gibt uns Bescheid, sobald sie abziehen. Vermutlich wird das noch vor Anbruch der Dunkelheit sein. Wir werden den Kutschen heimlich folgen. Séverine kann doch hoffentlich reiten, wenn sie in Faucheville aufgewachsen ist.«
»Wie ein Junge«, sagte Adrien und prüfte die Einzelheiten des Planes. »Am besten weihen wir auch Julien ein. Er versteht sich auf heimliche Aktionen. Sicher kennt er auch deinen Schildknappen. Zu zweit hören und sehen sie mehr.«
»Du sorgst dich sehr um das Mädchen.« Philippe staunte über die Sicherheitsmaßnahmen, die Adrien für nötig hielt. »Was bedeutet sie dir?«
»So viel wie dir Jeanne.«
»Bist du sicher, dass du weißt, was du da sagst?« Ein höchst eigenartiger Ausdruck von Trauer flog über das hagere Antlitz des Prinzen. »Ich habe sehr spät erkannt, wie tief meine Gefühle für meine Frau sind. Ehe sie in mein Leben trat, hatte ich keine Ahnung von Wärme und Zuneigung. Von Güte, die gibt und nicht fordert. Ich habe sie geheiratet, weil mein Vater es befohlen hat. Es war mir angenehm, dass sie von so liebenswertem Wesen ist. Dass nie ein böses Wort über ihre Lippen kommt. Es gefiel mir, sie zu umarmen und bei ihr zu liegen. Erst in Pontoise habe ich gefühlt, dass uns weit mehr verbindet als Pflicht und Gehorsam. Ich will sie nicht verlieren. Und doch muss ich wie ein jämmerlicher Feigling tatenlos dabei zusehen, wie mein Vater sie auf unabsehbare Zeit in Verbannung schickt.«
Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und wandte sich ab.
Das Geständnis überraschte Adrien. Philippe gab selten zu, was wirklich in ihm vorging. Vorsichtig berührte er die Schulter des Verzweifelten.
»Du bist der Sohn des Königs, du kannst nicht handeln wie ein gemeiner Mann. Wenn du dich mit deinem Vater überwirfst, schadest du nicht nur Jeanne, du bringst auch eine Stimme der Vernunft im Rat des Königs zum Schweigen. Du darfst dem Zänker und Charles das Feld nicht überlassen. Du weißt, dein Vater schätzt dich. Er hält dich für besonnen und klug. Tu nicht ausgerechnet jetzt etwas, was
Weitere Kostenlose Bücher