Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Turm der Lügen

Turm der Lügen

Titel: Turm der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Cristen
Vom Netzwerk:
erwirken.«
    Die Versuchung, sie Schwester zu nennen, stieg übermächtig in ihr auf. Sie hatte eine Schwester. Es schien ihr wie ein Wunder.
    »Ich will versuchen, stark zu sein. Aber ich zittere um meine Kinder, Séverine. Jacquemine ist ihnen eine gute Hüterin, aber sie ist zu alt. Sie braucht Hilfe. Sie braucht deine Hilfe. Du bist ihnen vertraut. Philippe hat mir versprochen, euch zu beschützen, vor allen Dingen vor Mahaut. Meine Kinder sind Prinzessinnen von Frankreich und somit die idealen Schachfiguren für ihre politischen Winkelzüge. Dir muss ich nicht erklären, wozu sie fähig ist.«
    »Ich werde für Eure Töchter alles tun, was in meiner Macht steht«, versprach Séverine. »Den Kampf gegen Mahaut wird Philippe gewinnen. Ich werde für die Mädchen sorgen. Wie eine Mutter. Als wären sie mein eigen Fleisch und Blut. Ihr habt mein Wort darauf.«
    Es war die Leidenschaft, mit der Séverine ihre Hilfe anbot, die Jeanne stutzen ließ. Sie verströmte eine Sicherheit, die völlig neu an ihr war. Es gab nur eine Erklärung dafür.
    »Hat also Adrien endlich das Geheimnis deiner Herkunft gelüftet?«, fragte sie.
    In ihrer Aufregung zog Séverine die falschen Schlüsse. In ihren Ohren klang es, als wisse Jeanne längst Bescheid und wolle sich nur versichern, ob auch sie alles wusste.
    »Darf ich Euch wenigstens einmal Schwester nennen?«, fragte sie überschwenglich.
    Es war verwirrend, aber gleichzeitig logisch. Séverine bestätigte ihr ihre insgeheime Ahnung. Jeanne zweifelte keinen Augenblick.
    »Wie ist das möglich? Weshalb hat unsere Mutter …«
    »Ich musste meinen Platz einem Sohn räumen. Dem Sohn, den ihre Kammerfrau zur Welt brachte. Sie war Loup Gasnays Frau und Mahaut bis in den Tod ergeben.«
    »Warum hat dir Adrien dieses gefährliche Geheimnis ausgerechnet jetzt enthüllt?«
    »Um mir eindringlich klarzumachen, dass auch ich in Gefahr schwebe.« Weil Séverine annahm, dass Jeanne längst alles wusste, sah sie keinen Grund, ihre Zunge zu hüten. »Unsere Mutter wird mir nach dem Leben trachten, wenn sie erfährt, dass ich um ihr Geheimnis weiß.«
    »Wer weiß noch davon?«
    »Adrien, sein Vater, mein Ziehvater. Aber mit Ausnahme von Adrien scheinen mich alle vergessen zu haben.«
    Jeanne griff nach Séverines Händen. Sie sahen sich in die Augen.
    »Wir wollen uns gute Schwestern sein. Ich werde dich nie vergessen«, sagte Jeanne innig.
    Eine liebevolle, stumme Umarmung war Séverines Antwort.
    Während des ganzen drängenden und hastigen Gesprächs war vor dem Reisewagen eine heftige Debatte im Gange. Obwohl sich der Hauptmann der Autorität des Ritters Flavy gebeugt und die Reise unterbrochen hatte, protestierte er gegen das unerlaubte Gespräch der beiden Frauen.
    »Meine Befehle untersagen eine solche Begegnung, Seigneur«, vernahmen sie seine rauhen Worte.
    Die Zeit drängte. Lange würde Adrien den Hauptmann nicht mehr hinhalten können. Gewaltsam riss sich Jeanne von Séverine los.
    »Séverine, wenn du diesen Schwur wirklich ernst nimmst, musst du an der Seite meiner Töchter bleiben, bis sie im heiratsfähigen Alter sind.«
    »Wie kannst du von solchen Zeitspannen reden. Du wirst schon bald zurückkommen.«
    »Wer weiß.« Jeanne streckte ihr die Hand hin. »Gib mir dein Wort, Schwester!«
    Séverine umfasste die eisigen, bebenden Finger.
    »Du weißt, dass Philippe zum Gehorsam gezwungen ist. Er darf nicht handeln wie ein normaler Sohn. Sein Vater ist der König. Jedes Aufbegehren gegen ihn, und sei es noch so menschlich und verständlich, bedeutet Verrat. Das musst du stets im Auge behalten. Wenn du meine Töchter in Gefahr siehst, tu alles, um sie zu schützen. Im äußersten Fall soll Adrien dir helfen. Er war schon oft ein guter Ratgeber für Philippe und hat Mut zum Handeln.«
    »Verlass dich auf mich, Schwester.«
    Der Lärm vor dem Reisewagen nahm zu.
    Atemlos überhäufte Jeanne Séverine mit einer Fülle von Ratschlägen, Anweisungen und Bitten. Sie hatte noch längst nicht alles gesagt, als die Wagentür wieder aufgerissen wurde.
    »Kommt zum Ende, ich bitte Euch«, forderte Adrien und trat zurück, damit Séverine aussteigen konnte.
    Jeanne starrte an ihm vorbei gebannt nach draußen. Ein einfach gekleideter, hochgewachsener Mann beaufsichtigte unweit des Wagens die Pferde. Der unruhige Fackelschein tanzte über seine vertraute Gestalt, und ihr Herzschlag geriet aus dem Takt. Es hatte Adriens ganze Überredungskunst gekostet, Philippe in diese stumme Rolle zu

Weitere Kostenlose Bücher