Turner 01 - Dunkle Schuld
Einmal ein Baby-Kaninchen - man sagt, wenn sie erst den menschlichen Geruch an sich haben, verstoßen und töten die Eltern es.
Mach jetzt besser mal voran und fütter das Viech«, sagte er einen Moment später, »sonst hört das ja nie auf.« Dann zu mir: »Sie sind ein hartes Stück gegen den Strom geschwommen.«
»Hin und wieder.«
»Mehr hin als wieder, so wie’s sich anhört. Die Arbeit, wie Sie sie am Ende gemacht haben, muss so ähnlich wie Polizeiarbeit sein. Verlangt viel von einem. Und je besser man dabei ist, desto mehr verlangt sie einem ab.«
»Völlig richtig. Einfach nur zu arbeiten, auf der Straße zu sein, ohne dass irgendwas Bestimmtes passierte, machte den entscheidenden Unterschied. Veränderte mich, machte mich kaputt: Über diesen Punkt könnte man streiten. All diese Jahre, in denen ich in den Köpfen anderer Menschen herumgewandert bin, waren so was wie eine Wiederholung.«
»Vom Gefängnis mal ganz zu schweigen.«
Wir beobachteten June, die draußen Vogelfutter auf die Fensterbank streute und einen Schritt zurücktrat, als die Drossel wiederkam. Sie blickte zu uns rüber und winkte.
»Eines Tages, der so wirkte wie all die anderen, saß ich da mit meinem Morgenkaffee und meinem Terminkalender, schaute aus dem Fenster und bemerkte, dass der Boden weg war. Er war einfach unter mir verschwunden und weg. Ich wusste, dass ich nichts und niemandem mehr vertraute. Dass, wohin ich auch blickte, ich durch und hinter jedes Motiv sehen konnte - meine eigenen nicht weniger als die der anderen.«
»Also haben Sie sich entschieden, allein zu sein.«
»Ich weiß nicht, ob das eine bewusste Entscheidung war. Wie viele von den wichtigsten Dingen unseres Lebens sind das?«
June kam rein, holte ihr Portemonnaie aus einer Schreibtischschublade und sagte, sie müsse Mandy von der Schule abholen, würde sie absetzen und direkt zurück sein.
»Ist es schon wieder so spät?«, meinte Bates. Und ich, als sie weg war, sagte, ich hätte gar nicht gewusst, dass June ein Kind habe.
»Wie sollten Sie auch. Aber sie hat keins - zumindest noch nicht. Eine Freundin von ihr, Julie, arbeitet als Krankenschwester, Zwölf-Stunden-Schichten zweimal die Woche. June hilft ihr. Die zwei sind zusammen zur Schule gegangen, vom Kindergarten an, komplett unzertrennlich.«
»Ja, wie Juni und Juli.«
»Niedlich, nicht?«
»Andere Kinder hatten daran sicher ihren Spaß.«
»Nur die ersten ein, zwei Mal. Sie haben sie noch nicht
gesehen, aber das andere Mädel hat ein Temperament, das einen Grizzlybären dazu bringt, sich zu verkrümeln und um Gnade zu betteln.«
»Passt jemand anders auf das Kind auf, wenn sie es abgesetzt hat?«
»Julies Bruder. Clif ist noch nicht alt genug, um selbst einen Führerschein zu haben, aber er geht nach der Schule rüber und bleibt bei Mandy, bis Julie wieder da ist. Wie ich höre, hat er sogar das Abendessen fertig, wenn sie nach Hause kommt.«
Das Telefon klingelte.
»Sheriff B…«
Er sah mich an und schüttelte den Kopf.
»Ja, Ma’am, ich …«
Sein Part des Gesprächs war wie ein Motor, der immer und immer wieder angeworfen wird, aber nie anspringt.
»Ja, Ma’am. Wenn …«
»Ja, Ma’am. Kann ich …«
»Was …«
Er zog einen Notizblock zu sich heran und kritzelte etwas auf die oberste Seite.
»Wir kümmern uns sofort darum, Ma’am«, sagte er dann und hängte auf. »Überrascht?«
Ich brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass seine letzte Bemerkung mir galt und sich auf das bezog, was er mir über June und die Kleine ihrer Freundin erzählt hatte.
»Ein bisschen, Sheriff.«
Was ich wirklich gedacht hatte, war, ob ich mich tatsächlich noch in den Vereinigten Staaten befand. Dies hier konnte nicht dasselbe Land sein, das ich aus den Nachrichten,
Fernsehshows und neueren Romanen kannte. Wohlgemerkt, ich sah weder fern, noch las ich Zeitung und hatte seit meiner Zeit im Gefängnis auch keinen Roman mehr gelesen, aber ich bekam es ja durchaus mit. Thoreau, Zarathustra, Philip Wylies Superman allein und machtlos auf seinem Berggipfel - in der heutigen Welt wäre ihnen allen bewusst, welche Shows und Serien um die besten Sendeplätze konkurrierten, wer der angesagteste neue Modeschöpfer war und wer der letzte produzierte Teenie-Star.
Aber Leute, die auf andere Kinder aufpassten, als wären es ihre eigenen? Ein Bruder im Teenager-Alter, der die Verantwortung für das Kind seiner Schwester übernimmt?
Bates riss die Notiz, die er sich gerade gemacht hatte, vom Block
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