Turner 01 - Dunkle Schuld
und warf sie in den Papierkorb.
»Zeit, dass Sie aufhören, mich immer Sheriff zu nennen, finden Sie nicht auch? Meine Freunde nennen mich Lonnie.«
Darauf fielen mir fünf oder sechs Antworten ein.
»Freundschaft ist etwas, das mir nicht leichtfällt«, sagte ich endlich.
»Sie werden sich mit der Zeit dran gewöhnen.« Er lächelte. »Mögen Sie Huhn?«
Drei Stunden später fand ich mich an einem alten Esstisch aus Walnussholz mit vielen Gebrauchsspuren wieder. Mein neuer bester Freund Sheriff Bates alias Lonnie saß am Kopfende des Tisches zu meiner Rechten, seine Frau Shirley genau gegenüber, June am anderen Ende und die
beiden Teenager-Söhne Simon - mit Bürstenhaarschnitt und Schlabberhosen - und Billy - mit diversen Piercings und ganz in Schwarz - auf den restlichen zwei Stühlen. Platten, auf denen sich Kartoffelpüree und Hühnchen türmten. Schüsseln mit geschmorten Okras und Tomaten, Sahnesauce und Maiskolben. Sie waren um das Herzstück der Tafel herum angerichtet, einer Schale mit gewachstem Obst. Flache Schälchen mit Chutneys, kleine weiße Schalen gefüllt mit Wasser, in denen Magnolienblüten schwammen. Altmodische Servierteller mit Aufbackbrötchen. Der Fernseher stand wie ein Leuchtturm direkt hinter der Verbindungstür zum Wohnzimmer, leicht gewinkelt und mit abgedrehtem Ton. Die Augen der Jungen verließen nie den Bildschirm, während Fran Dreschers Nanny aufhörte und Der Prinz von Bel-Air begann.
»Wir freuen uns, dass Sie bei uns sind«, sagte Shirley Bates.
»Vielen Dank für die Einladung. Das Essen ist wunderbar.«
»Ach, nichts Besonderes, fürchte ich.«
»Weiß nicht, ich finde, die Magnolien geben dem Ganzen eine festliche Note.«
»Gefallen sie Ihnen?« Ihr Gesicht strahlte erfreut. »Lonnie findet, sie sind affig. Meine Mutter hat es früher immer so gemacht.«
Meine auch - war mir in dem Moment wieder eingefallen.
Nach dem Essen halfen der Sheriff und ich, die Teller zu stapeln und in die Küche zu bringen, deren Tür mit einem Gummikeil offen gehalten wurde, wie ich ihn schon Jahre
nicht mehr gesehen hatte. Shirley lehnte unser Angebot weiterer Hilfe ab und meinte: »Spiel du mal den aufmerksamen Gastgeber, Liebling. Ein bisschen Übung kann dir weiß Gott nicht schaden. Ich werde hier schon allein fertig.«
Bates schenkte Kaffee aus der Corningware-Warmhaltekanne in Becher mit Bildern von Schafen und Rehen ein. Durch eine Schiebetür gelangte man direkt aus der Küche auf eine Terrasse. Vier oder fünf Plastiksessel standen dort, der Rost im Grill war überzogen von Ruß, darunter lagen weiße Grillkohle-Geister, Narzissen quollen fröhlich aus einem kleinen Beet am Haus. Eine Harke lehnte an der Wand in der Nähe, die Zinken voller dunkler, brüchiger Blätter. Wir saßen da und plauderten zwanglos über Belanglosigkeiten. Als es an dem Holztor zur Einfahrt klopfte, rief Bates laut: »Komm rein.«
Er trug einen dunkelblauen Anzug, dessen zweireihig geknöpftes Jackett seine tatsächliche Größe sicher um mindestens fünfzehn Zentimeter verkürzte, wie ich feststellte, als ich aufstand, um ihn zu begrüßen. Die unteren Enden seiner Ärmel und Hosenbeine waren voller weißer Haare, denen eines Haustieres, Hund oder Katze. Lederslipper, lange vernachlässigt, eine Seidenkrawatte, heute Morgen sorgfältig geknotet und dann vergessen.
»Sie müssen Turner sein.«
»Bürgermeister Sims«, stellte Bates vor, als wir uns die Hand schüttelten.
»Einfach nur Henry Lee. Bitte. Danke für die Einladung, Lonnie.«
»Ist schon viel zu lange her. Am besten, du gehst rein und
begrüßt Shirley, bevor du wieder gehst - wenn du weißt, was gut für mich ist.«
»Mach ich, mach ich.«
»So, warum besorge ich uns jetzt nicht was zu trinken? Black Jack wie immer, Henry Lee?«
»Musst du da noch fragen?«
»Für mich ein Bier, wenn’s keine Umstände macht«, sagte ich.
»Kein Problem.«
Bates brauchte ziemlich lange, um die Getränke zu holen. Einige Male sah ich, wie er sich vorsichtig ans Fenster schob und zu uns herausschaute. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass ich das mitbekommen sollte.
»So«, sagte Bürgermeister Sims und ließ sich auf einen Sessel sinken. »Werden Sie den Hintern von diesem Nichtsnutz aus dem Feuer ziehen können?«
»Wir werden sehen.«
Um uns herum, drüben beim Haus, in der Nähe des Tores, über einem allein stehenden Feigenbaum flammte das kalte chemische Licht der Leuchtkäfer auf und erlosch wieder.
»Wie sieht’s in letzter
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