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Turner 01 - Dunkle Schuld

Turner 01 - Dunkle Schuld

Titel: Turner 01 - Dunkle Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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Richtung Norden, vorbei an der Beale Street und der Union Avenue.
    Alles in allem eine ziemlich ereignislose Schicht. Eine halbe Stunde vor Dienstende erreichten wir das Revier,
mussten nur noch den Routine-Papierkram erledigen und hatten sonst keine weiteren Pflichten mehr. Randy und ich setzten uns in den Pausenraum. Er füllte das Formular mit dem Dienstbericht aus, ich trank Kaffee. Die sechste Tasse des Tages? Er schob mir zum Gegenzeichnen den Bericht über den Tisch zu. Inzwischen strömten die restlichen Krieger dieser Schicht herein, sie schlugen sich gegenseitig auf den Rücken und erzählten sich neue Kriegsgeschichten, verstauten Uniformen in Spinden (manche rochen bereits ein bisschen, klar, aber chemische Reinigung ist teuer), spritzten sich Wasser unter die Achseln, auf Brust, Nacken und Gesicht an den vier schmalen Becken im Gemeinschaftswaschraum, schmierten sich Deodorant unter die Achselhöhlen, dann schnell noch ein paar Tropfen Eau de Cologne oder ein paar Schlucke aus einem Flachmann, bevor sie sich aufmachten, um der Welt wieder als normale Bürger zu begegnen.
    Als ob sie das könnten.
    Ich zog mich um, Jeans, Sweatshirt, meine graue Windjacke. Taschen waren schon lange verschwunden, der Reißverschluss klemmte, der Kragen war halb durchgescheuert. Ich ging die zwei Stufen runter ins Revier, dachte, dass es sich ja irgendwie abgrenzen muss von seiner Umgebung, und um die Ecke zum Parkplatz. Ich kletterte gerade in meinen Truck, der ziemlich genau so aussah wie meine Windjacke, als Randys Kopf neben mir auftauchte.
    »Musst du irgendwohin?«
    »Nicht wirklich.«
    »Dann könnten wir vielleicht ein Bier oder zwei zusammen trinken gehen.«

    Das machten wir, vier, um genau zu sein, in der Lounge eines Holiday Inns in der Nähe. Kellnerinnen aus dem Restaurant kamen ständig vorbeigeschlendert, um zu sehen, ob wir etwas zu essen bestellen wollten. Draußen in der Lobby spielte ein Typ Piano, ließ großartige Wogen entstehen, geformt von seinen beiden Händen, wie Schneebälle um Steine aus kurzen Melodien über Tonika, Subdominante, Dominante, wieder Tonika. Ein leichter Anklang vom verwandten Moll. In einer der hinteren Sitzecken saß ein Mann, der eifrig auf eine Frau einredete, die nur halb so alt war wie er. Sein Blick verließ nie ihre Augen. Ihre Augen begegneten nie seinem Blick.
    »Sieh mal, du kennst das doch, wenn der Mann am Projektor den Film nicht richtig einstellt, und alles ist ein einziger verschwommener Fleck?«, erzählte Randy mir beim zweiten Bier. »Du guckst weg und wieder hin und denkst, dass es doch bald mal klarer sein müsste. Als wären da zwei Bilder, zwei Welten, nur einen halben Lidschlag entfernt. Dann wirfst du deine Pillen ein, und alles fügt sich wieder zusammen, das Schwammige verschwindet.«
    Vielleicht (ich erinnere mich, dass ich das schon damals dachte) ist das Verschwommene genau das, worum es letztlich geht.
    Wir saßen schweigend da und verfolgten beiläufig Ausschnitte von Football-Spielen und Wrestling im Fernseher über der Bar, als sich die Türen der Lobby öffneten, um einen Rollstuhl hereinzulassen. Der Rollstuhl fuhr rückwärts. Er hatte keine Fußstütze und wurde von den Fü ßen des Besitzers angeschoben und dirigiert. Während er in den Rückspiegel sah, der an seiner Armlehne befestigt
war, bahnte sich der Besitzer seinen Weg in die Lounge. Um den Hals trug er etwas, das aussah wie ein verbogener Kleiderbügel. Daran befestigt war eine Art Panflöte, in die der Rollstuhlfahrer blies, als er sich näherte, um sein Kommen anzukündigen. Vielleicht waren seine Arme und sein Oberkörper gelähmt?
    Aber nein, als er die Bar erreichte und seinen Stuhl drehte, reichte der Barkeeper ihm ein frisch gezapftes Bier.
    »Wie geht’s, Sammy?«
    Der Mann nahm einen tiefen Schluck Bier, bevor er antwortete.
    »Nicht schlecht. Könnte schlimmer sein. War’s oft.«
    »Wie ich sehe, ist der Scheck rechtzeitig eingetroffen.«
    »Tag zu spät. Knapp vorbei …«
    »… ist in diesem Fall aber hoffentlich nicht daneben.« Sammys Gesicht verzog sich zu etwas, das offensichtlich ein Lachen sein sollte. Die Schultern hoben sich. Ein fast lautloses Lachen, und in den Augenwinkeln tauchten Tränen auf. Kurz darauf beugte er sich vor und stellte das leere Glas auf die Theke. Der Barkeeper hatte schon das nächste für ihn gezapft. Sammy leerte es fast in einem Zug und stellte es neben das erste. Er verlagerte sein Gewicht auf die rechte Hüfte und zog ein

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