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Turner 01 - Dunkle Schuld

Turner 01 - Dunkle Schuld

Titel: Turner 01 - Dunkle Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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Sechsundzwanzig
    Einer meiner letzten Klienten war ein Mann gewesen, der seinen acht Monate alten Sohn verstümmelt hatte. Er war zwei Jahre in der staatlichen Psychiatrie gewesen, wo es, wie vorherzusehen, nicht sonderlich gut für ihn gelaufen war, und kam mit einer sechsjährigen Bewährungszeit zu mir, wobei das Gericht wöchentliche Beratungsgespräche angeordnet hatte. Sein Bewährungshelfer rief mich jeden Freitagnachmittag an.
    Freundlich, entspannt und mit klarem Blick, konnte er mir nie erklären, warum er es getan hatte. Ein-oder zweimal verfiel er im Lauf einer Unterhaltung in eine Art Singsang: »Donnerstag, Daumen. Zeigefinger, Freitag. Mittelfinger, Samstag. Ringfinger, Dienstag. Kleiner Finger, Freitag.« Er kam mir dabei wie jemand vor, der versucht, abstrakte Begrifflichkeiten in einer Sprache auszudrücken, die er kaum versteht. Er wirkte de facto wie ein völlig anderer Mensch - überhaupt nicht wie der ruhige junge Mann in Chinos und T-Shirt, der mir jede Woche plaudernd gegenübersaß.
    Das ist natürlich oberflächlich. Andererseits auch kaum oberflächlicher als vieles andere, das ich damals in Form von Beobachtung, Rat, Beistand, vermeintlichem Mitgefühl wieder und wieder zu meinen Klienten gesagt habe. Gesprächstherapie verfügt über ein schändlich begrenztes Vokabular, erbärmlich wenige Konjugationen.
    »Ich will mich doch nur mit meiner Frau und meinem
Sohn in Verbindung setzen«, sagte Brian. »Ich will ihnen doch nur sagen …«
    »Was wollen Sie ihnen sagen?«, fragte ich dann schließlich.
    »Dass …«
    »Was?«
    »… ich weiß nicht.«
    Meine Wohnung lag gegenüber einer Vertragsschule. Durch das Fenster folgten Brians Augen jungen Frauen in karierten Röcken, weißen Kniestrümpfen und bügelfreien weißen Blusen, jungen Männern in Blazern, grauen Hosen, gestreiften Krawatten. Schließlich schenkte ich Kaffee ein, mir selbst schwarz, ihm mit zwei Würfeln Zucker. Dann sa ßen wir still da, fühlten uns durchaus wohl in Gesellschaft des anderen, zwei Weltbürger, die für einen Augenblick mal eine Pause vom Geschehen machten, obgleich auf uns beide wichtige Arbeit wartete, im Ruhezustand und mit Muße auf der Veranda der Zeit.
    Wir hatten uns bereits seit drei Monaten regelmäßig getroffen, Brian hatte nicht eine einzige Sitzung versäumt, als ich eines Nachmittags einen Anruf von ihm erhielt. Solche Anrufe verheißen nichts Gutes. Allgemein bedeuten sie, dass jemand durchdreht, jemand hat sich tief in der Scheiße wiedergefunden, jemand benötigt dringend eine stärkere Krücke oder häufiger einen Abschleppwagen. Brian wollte einfach nur wissen, ob ich Lust auf einen Film hätte, danach vielleicht auf einen Happen zu essen.
    Mir fiel nichts ein, was dagegen sprechen sollte - das heißt, abgesehen von dem Berufsgrundsatz, dass Therapeuten nicht mit Patienten verkehren sollten.

    Ich habe keine Ahnung, welchen Film wir uns ansahen. Ich habe später einige Zeit in der Bücherei verbracht und bin die archivierten Zeitungen dieses Tages durchgegangen. Bei keinem der dort aufgeführten Filme klingelte ein Glöckchen.
    Danach gingen wir in ein italienisches Restaurant. An das erinnere ich mich sehr gut. Es war so etwas wie ein Familienbetrieb, in dem die älteren Kinder bedienten, alle kleineren Kinder und Mama standen in der Küche, und Papa konnte jeden Moment an unseren Tisch kommen mit einem Akkordeon oder einer gesanglichen Darbietung von »Santa Lucia«. An diesem Abend jedoch war es ruhig in dem Restaurant. Körbe mit Brot, Antipasti, Suppe, Pasta, Hauptgericht, Dessert und Kaffee kamen. Beide lehnten wir wiederholt den angebotenen Wein ab.
    Ich kann mich an das, worüber wir sprachen, ebenso wenig erinnern wie an den Film, aber wir unterhielten uns, vorher, während und nachher, mehr oder weniger nonstop. Deutlich nach Mitternacht setzte ich Brian dann vor einer Jazz-Kneipe in der Beale Street in ein Taxi.
    Das war Dienstag. Als Brian zu seiner Sitzung am Donnerstag nicht auftauchte, versuchte ich anzurufen. Als sein Bewährungshelfer sich am Freitag meldete, erzählte ich ihm, dass Brian nicht erschienen war. Wir schickten einen Streifenwagen vorbei.
    Ein paar Stunden später rief der Bewährungshelfer wieder an. Inzwischen war ich zu Hause, hatte Jeans und T-Shirt angezogen, eine Flasche Merlot wieder mit dem Korken verschlossen und in den Kühlschrank gestellt, während eine ordentliche Menge aus der Flasche in dem bauchigen Glas
vor mir stand. Kolibris balgten sich um

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