Twig im Dunkelwald
geheißen. Er rannte geradewegs durch die Höhle auf die Stelle in der Ferne zu, an der das Licht der Wurzeln am hellsten schien, und sah kein einziges Mal zurück. Hinter sich hörte er mal näher, mal weiter weg das Getrampel und Keuchen der wütenden Höhlenfurien.
Fast an seinem Ziel angelangt, sah er, dass es sich um ein dichtes Gewirr leuchtend weißer Wurzeln handelte. Und in welche Richtung jetzt? Seine Kopfhaut kribbelte, sein Herz raste. Vor ihm öffneten sich ein halbes Dutzend Tunnel. Welcher führte nach draußen? Vielleicht überhaupt keiner?
»Er weiß nicht weiter!«, hörte er hinter sich eine Höhlenfurie schreien.
»Schneidet ihm den Weg ab!«, befahl eine andere.
»Und dann den Kopf!«, brüllte eine dritte und alle lachten kreischend.
Twig war verzweifelt. Er konnte nur durch einen Tunnel fliehen, aber wenn der Tunnel, in den er rannte, nun eine Sackgasse war? Während er noch überlegte, welchen er nehmen sollte, kamen die Furien unaufhaltsam näher. Jeden Moment konnten sie ihn eingeholt haben und dann war es zu spät.
Zitternd vor Angst und Erschöpfung, rannte er an den einzelnen Tunneleingängen vorbei. Plötzlich spürte er einen kalten Luftzug. Ein Schauder lief ihm über die verschwitzte Haut. Natürlich! Nur immer dem Wind nach , hatte das Höhlenmännchen gesagt. Ohne weiter nachzudenken stürmte Twig in den zugigen Tunnel hinein.
Der breite Schacht wurde bald enger und niedriger. Twig war das nur recht. Je mehr er sich bücken musste, desto unwahrscheinlicher war es, dass die kolossalen Höhlenfurien ihm noch folgen konnten. Schon hörte er sie hinter sich schimpfen und keifen und ihr Pech verfluchen. Plötzlich machte der Tunnel eine Biegung und endete.
»Und jetzt?«, stöhnte Twig. Er war tatsächlich in eine Sackgasse geraten. Entsetzt starrte er auf einen Haufen bleicher Knochen, der halb mit Sand und Erde bedeckt war: ein Schädel, Überreste von Zöpfen mit aufgefädelten Perlen und ein Halsband um einen verwesenden Hals. Was da vor ihm lag, war ein Schoßhund wie er gewesen, der nicht hatte fliehen können. Da bemerkte er eine einzelne Wurzel, die in den Schacht herunterragte. Twig streckte die Hand nach ihr aus. Sie fühlte sich so tot an wie alles andere hier, kalt und steif, und sie leuchtete nicht. Woher kam dann das Licht? Er sah nach oben. Dort, weit über seinem Kopf, strahlte ein kleiner, silbrig-heller Kreis!
»Er hat den Luftschacht entdeckt«, hörte er eine Höhlenfurie wütend kreischen.
Twig zog sich an den astartigen Verzweigungen der Wurzel hinauf. »Stimmt genau«, murmelte er.
Mit Händen und Füßen übereinander greifend, kletterte er auf das Licht zu. Die Arme taten ihm weh, seine Finger zitterten. Wieder sah er hinauf. Er schien dem Licht nicht näher gekommen zu sein. Ihm wurde heiß vor Angst. Wenn das Loch nun zu klein war um durchzuklettern?
Den Fuß über die Hand und die Hand über den Fuß setzend, kletterte er höher und höher. Sein Atem ging laut und regelmäßig. Uuuh, aaah, uuuh, aaah. Endlich wurde der helle Kreis größer. Die letzten Wurzelmeter zog er sich hinauf, so schnell er konnte, allerdings mit der gebotenen Vorsicht – zu den Knochen da unten am Boden ging es ziemlich schnell hinunter. Dann streckte er den Arm in die warme Sonne hinaus.
»Dem Himmel sei Dank, dass es Tag ist«, seufzte er. Er stemmte sich hinauf und rollte auf das Gras. »Sonst hätte ich den Weg nach draußen nie gefun …« Er brach ab. Er war nicht allein. Die Luft war erfüllt von Hecheln, Knurren und einem durchdringenden Fäulnisgeruch. Langsam blickte er auf.
Heraushängende Zungen und schwarze, zuckende Nasen, Zähne wie Eispickel, gebleckt, glitzernd und sabbernd, und gelbe Augen, die ihn abwartend anstarrten – und Maß nahmen.
»W … W … Waldwölfe«, stammelte er.
Die Haare ihrer schneeweißen Halskrausen stellten sich beim Klang seiner Stimme auf. Twig schluckte. Es waren Weißkragen waldwölfe, die schlimmste Sorte, und noch dazu ein ganzes Rudel. Ganz langsam schob Twig sich zum Luftschacht zurück, doch zu spät. Die Wölfe merkten, dass er sich bewegte, und knurrten, dass ihm das Blut in den Adern gefror. Da – mit aufgerissenem Maul und sabbernden Fängen sprang ein Wolf auf und flog auf ihn zu.
»Hilfe!«, schrie Twig. Das Tier stieß ihm mit seinen ausgestreckten Pfoten gegen die Brust und brachte ihn zu Fall.
Twig hatte die Augen fest geschlossen. Der Wolf schnüffelte und leckte an ihm. Twig spürte seinen warmen Atem
Weitere Kostenlose Bücher