Twitter: Eine wahre Geschichte von Geld, Macht, Freundschaft und Verrat (German Edition)
Technologie, hatte Noah das Gefühl, bei jedem beiläufigen Gespräch von seiner Vergangenheit eingeholt zu werden. Allenthalben war nun von Twitter die Rede, das kleine blaue Twitter-Logo tauchte auf den Kreidetafeln von Bars auf, prangte auf den Speisekarten von Restaurants und auf Lkw-Planen. Wie allen anderen in San Francisco konnte er ihm nicht entgehen. »Bist du auf Twitter?«, fragten neue Freunde, ohne zu ahnen, welche Rolle er bei der Schaffung des Dienstes gespielt hatte.
Im Foyer der Twitter-Zentrale war Ev bemüht, Noahs Gefühle zu schonen. »Hör mal, ich weiß, dass du am Anfang eine maßgebliche Rolle gespielt hast«, sagte er, »aber es ist heute ein völlig anderes Unternehmen.« Sie unterhielten sich ein wenig über die alten Zeiten, dann brach Noah auf und schloss die Tür der geschäftigen, blühenden Firmenzentrale hinter sich – und verschwand von der Bildfläche.
Er packte seine Siebensachen in Pappkartons und schickte von San Francisco aus einen letzten Tweet ab: »Ha! Hab mir gerade einen riesigen Camper gekauft. Versuche, herauszufinden, wie man das kleine Miststück fährt. Hab einen Standplatz in Venice Beach. Ziehe dieses Wochenende um :-).« Dann brach Noah nach SüdenRichtung Los Angeles auf und ließ sich durch die heruntergelassenen Fenster die frische Luft um die Nase wehen. Aus der Stereoanlage tönte dieselbe Musik, die er ein paar Jahre zuvor auf der Fahrt nach Coachella mit seinem damaligen besten Freund Jack gehört hatte. Aber auf dieser Reise war er einsam. Er suchte Trost auf Twitter und schickte ein paar Mitteilungen über die Fahrt, aber dadurch fühlte er sich nur noch schlechter. Niemand beantwortete seine Tweets. Was nützte ein Dienst, der dabei half, mit seinen Freunden in Kontakt zu bleiben, so wie Noah sich Twitter ursprünglich ausgedacht hatte, wenn man gar keine Freunde hatte?
Im sonnigen Los Angeles angekommen, bezog er bald einen Dachspeicher in der Nähe von Venice Beach und versuchte, ein neues Leben anzufangen.
Eine Zeit lang empfand er ein Glück, das er seit langem nicht mehr verspürt hatte, aber es war nur von kurzer Dauer. Geschichten über Twitter tauchten nun allenthalben in den Wirtschafts- und Technologiespalten auf, durchdrangen jeden Winkel der Kultur. Selbst auf den Sportseiten las man über Twitter.
An einem Mittwochmorgen im November 2008 war in einem Artikel in der New York Times die Nachricht zu lesen, dass Shaquille O’Neal, der 2,16 Meter große Basketballhüne, ein Twitter-Konto eröffnet hatte.
Seit seiner Gründung waren auf Twitter reihenweise falsche Konten unter den Namen von Stars angelegt worden, um sich einen Spaß zu machen oder die Berühmtheiten mit Spott zu überziehen, doch nun registrierten sich immer mehr echte Stars auf Twitter. So war es auch bei Shaquille O’Neal. Nun hatte der Basketballspieler beschlossen, dem falschen O’Neal das Twitter-Konto abspenstig zu machen und selbst zu twittern. Seine berühmten Freunde brachte er gleich mit. Und wohin die Stars gingen, dahin folgten ihnen die Fans – dieselben Fans, die natürlich auch in Venice Beach, Los Angeles, lebten. Noahs Nachbarn.
Genau wie in San Francisco tauchte bald überall der blaue Vogel auf. »Hey, schon mal was von Twitter gehört?«, wurde Noah in denBars an der Strandpromenade von Venice Beach gefragt. »Wow, warum haben Sie so viele Follower?«, wollte jemand in einem Café am Abbot Kinney Boulevard von ihm wissen.
Twitters Präsenz in den Schlagzeilen erreichte bei einem Ereignis, das als »Wunder vom Hudson River« bekannt wurde, einen neuen Höhepunkt. Ein Airbus A 320 mit 155 Passagieren an Bord war nach dem Abflug vom New Yorker Flughafen LaGuardia mit einem Schwarm Vögel kollidiert und hatte auf dem Hudson River notwassern müssen. Ein Tourist, der das Geschehen von einer Fähre aus beobachtet hatte, fotografierte mit seinem Handy, wie die Passagiere dem sinkenden Riesenvogel rechtzeitig auf Notrutschen entkamen – und postete es auf Twitter. In Windeseile verbreitete es sich über das ganze Internet, wurde in den Abendnachrichten gezeigt und in den Zeitungen abgedruckt.
Wohin man auch blickte: Twitter, Twitter, Twitter.
Außerstande, der Allgegenwart von Twitter zu entgehen, zog sich Noah immer weiter zurück. Er schaltete Telefon und Computer ab und kappte jede Verbindung zum Internet, in der Hoffnung, Abstand und Zeit würden seine Wunden heilen.
Ende 2008 machte Jack das Gleiche durch wie Noah. Doch Jack beschloss, damit
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