Twitter: Eine wahre Geschichte von Geld, Macht, Freundschaft und Verrat (German Edition)
Moment lang Stille im Raum, während Clinton das Blatt eingehend betrachtete, eine reglose Szene, die ebenso gut einem Gemälde in der National Gallery of Art ein paar Blocks weiter hätte entnommen sein können. Schwerlich hätte ein Außenstehender erraten, worum es dabei ging. Die Ministerialbeamten waren zwar für die Bereiche Technologie und Innovation zuständig, aber es lagen weder Handys noch Notebooks oder Tabletcomputer auf dem ovalen Kaffeetisch, um den herum sich alle drängten wie um eine Feuerstelle; nur ein einzelner Bildband und eine beigefarbene Schale befanden sich darauf.
Kein Wunder, denn sämtliche elektronischen Geräte der Anwesenden lagen in sicherer Entfernung hinter den »Feuertüren« des Büros der Außenministerin. Innerhalb des streng geheimen Sicherheitsbereichs höchster amerikanischer Regierungsstellen ist jegliches technische Gerät untersagt. Nur Stift und Papier dürfen verwendet werden, um es Spionen zu erschweren, sensible Unterhaltungen mitzuschneiden oder streng geheime Verschlusssachen zu fotografieren.
Das war der Grund, warum Ross seiner Ministerin auf einem Stück Papier veranschaulichen musste, wie Twitter funktionierte.
Ross rutschte mit seinem Stuhl auf dem großen, farbigen Läufer näher heran. »Die Leute geben ihre Mitteilung also in ein Feld ein«, erläuterte er die Vorgehensweise und wies auf die obere Hälfte seiner Zeichnung. »Sie können dann den Tweet verschicken, indem sie auf ›senden‹ klicken«, fuhr er fort und wies auf die rechte Seite, »dann wird er an ihre Follower verteilt, die ihn mit anderen Leuten, die wiederum ihre Follower sind, teilen können …« Er unterbrach sich mitten im Satz, weil ihm klar wurde, dass er Clinton erst einmal die Idee der Follower erklären musste.
Er ließ den Blick in die Runde der Beamten schweifen, darunter die Direktorin für politische Strategieplanung Anne-Marie Slaughter, allesamt zu einer vertraulichen Unterredung mit der Ministerin gerufen, um der Chefin ein neues soziales Netzwerk zu erklären.
»Ein 17-Jähriger mit einem Smartphone«, schaltete sich Slaughter ein, um die Bedeutung des Dienstes deutlicher werden zu lassen, »kann jetzt tun, wozu früher ein ganzes CNN-Team nötig war. Twitter bringt Transparenz an Orte, auf die sonst kein Licht fällt.«
Ross, ein jungenhaft auftretender 38-Jähriger mit dicken, braunen Locken, hatte im State den Spitznamen »Obama-Bursche«, weil er bei den Vorausscheidungen der Demokratischen Partei ein Jahr zuvor dem Wahlkampfteam von Barack Obama geholfen hatte, das Rennen gegen Hillary Clinton für sich zu entscheiden. Eines der Hilfsmittel in seinem Arsenal war dabei eben jener Kurzmitteilungsdienst gewesen, den er nun seiner Dienstherrin erklärte.
»Twitter gewährt uns Einblicke in Länder wie Syrien oder den Iran, aus denen die Medien nicht frei berichten können«, fuhr Ross fort.
Nicht zufällig war die Besprechung im Außenministerium gerade jetzt anberaumt worden. Seit ein paar Tagen waren bei Twitter fremd wirkende grüne Avatare aufgefallen, die aussahen wie bunter Streusel auf Vanilleeis. Biz hatte sie zuerst entdeckt, dann waren sie auch Ev, Goldman und anderen Twitter-Mitarbeitern ins Auge gestochen. Zu dieser Zeit wusste noch niemand, was sie bedeuteten, bis die Technikern eine gehäufte Aktivität iranischer Twitter-Nutzer bemerkten.
Kurz darauf meldeten Nachrichtagenturen, zum Teil unter Verweis auf Twitter, dass sich Mahmud Ahmadinedschad zum Sieger der iranischen Präsidentschaftswahlen erklärt hatte. Sofort wurden Vorwürfe laut, dass er die Wahl manipuliert hatte. Nur Stunden nach Bekanntgabe des Ergebnisses äußerten iranische Oppositionskandidaten ihren Unmut auf Twitter und Facebook, auf den Straßen kam es zu ersten kleineren Demonstrationen. Nachdem sich die Kunde über Twitter verbreitet hatte, griffen die Proteste am folgenden Tag auf Dutzende von großen Städten im ganzen Iran über. Menschenmassen mit grünen Halstüchern und Fahnen, die Farbe der unterlegenen Opposition, strömten auf die Straßen und verlangten die Neuauszählung der Stimmen.
Obwohl Ahmadinedschad die Proteste kleinredete und sie mit hochkochenden »Leidenschaften nach einem Fußballspiel« verglich, unterband er Textnachrichten auf Facebook und Twitter und blockierte eine Reihe weiterer Kommunikationskanäle im Land, in der Hoffnung, den Widerstand zu ersticken. Doch die technikversierten iranischen Jugendlichen bedienten sich ausländischer Proxy-Server zur
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