Typisch Mädchen
Sie ist in der Spielfreude und Bewegung gehemmt.
Wir haben beide keinen Spaß mehr an dem Schiff und gehen zum Südseehaus. Dieses Haus, obwohl ringsum offen gebaut, ist nur an einer schmalen Stelle zum Zutritt freigegeben. Als Anneli unter dem Absperrseil durchklettert, werden wir wieder streng von den beiden anwesenden Saalwärtern ermahnt. Jetzt ist Anneli endgültig verunsichert, faßt nach meiner Hand und flüstert mir zu: »Mami, Mann schimpft.«
9. April 1983 (1 Jahr, 8 Monate)
Wir sind im Zoo in Berlin, stehen vor dem großen Affengehege und sehen zu, wie sich die ganze Affenbande gegenseitig jagt, laust und streitet. Es ist für die Kinder alles sehr lustig. Da taucht der große Pavian, das Männchen, auf, und die kleinen Affen sausen weg. Mir liegt auf der Zunge, in ehrfürchtigem Ton zu sagen: »Da schau, jetzt kommt der große Affenpapa« und allein schon durch meine Stimme die ganze Wichtigkeit und Besonderheit auf diesen einen Affen wegen seines Papa-Seins zu konzentrieren. Fast das gleiche passiert mir bei den Löwen. Hier kann ich es nicht mehr verschlucken, sondern beim größten der Löwen sage ich zu ihr in verhalten andächtiger Stimmlage: »Und das ist jetzt der Löwenpapa, da schau mal, wie groß der ist.« Dieser Löwenpapa geht genauso deprimiert hinter dem Gitter auf und ab wie alle anderen Löwen auch, aber allein meine Stimme und die Art und Weise, wie ich ihn besonders hervorhebe, machen den Papa zu einer Besonderheit. Alle anderen Löwen fallen dahinter erstaunlich ab.
Ich gebe an Anneli das patriarchale System weiter: Es hat keinen Sinn, emanzipatorische Bücher sorgfältig auszuwählen, wenn ich andererseits ungebrochen vermittle, daß der Chef der Familie der Papa ist, daß er der Größte ist, daß ich als Frau bei seinem Erscheinen besonders ehrfürchtig bin und daß alle anderen Familienmitglieder dem Größten untergeordnet sind, auch wenn es im Alltag bei uns in der Familie anders ist. Wie viele solch andächtiger Bemerkungen über männliche Wesen werden wohl von Frauen gesprochen, ohne daß dies sofort bemerkt wird. Was wunder, wenn die Männer von Frauen einen unglaublichen Respektsvorschuß in allen Dingen bekommen und kleine Buben selbstbewußt sind, können sie sich doch für später selbst in der Rolle des Papas sehen.
15. April 1983 (1Jahr; 8 Monate)
Ich sehe mir die Hodler-Ausstellung in der Nationalgalerie an. Natürlich ist Anneli dabei. Als wir uns in dem Saal befinden, in dem ein Triptychon hängt, das zwei allegorische Frauenfiguren in manierierter Haltung zeigt, beobachte ich Anneli, wie sie sich davor hinstellt und versucht, die Figuren in gleicher Körperhaltung nachzuahmen. Es sieht toll aus und entspricht dem Gemälde.
Jetzt erst beginne ich zu begreifen, daß sie vor zwei Tagen in der Stoff abteilung des KaDeWe (Kaufhaus des Westens), als sie in lustigen Verrenkungen dastand, die Modepuppen nachmachte. Sie ist also wohl in der Lage, ganz hervorgehobene Gesten und Gestalten wahrzunehmen. Sie empfindet dieses manierierte Gehabe als besonders und will dasselbe tun. Aber sie sieht immer nur Frauengestalten in einer solchen Haltung; im Kaufhaus, in der Ausstellung, in den Schaufenstern und nicht zuletzt auf den Reklamebildern in der ganzen Stadt. Anneli findet in den Ausstellungsräumen noch ein anderes Kind, mit dem sie sich anfreundet und spielt. Der Saalwärter richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf die beiden Kinder und läßt sie nicht aus den Augen. Als dann endlich eines der Kinder einen Schaukasten berührt, kommt er sofort herbei und weist sie in massiver Weise zurecht. Anneli flüchtet sich daraufhin zu mir. Jetzt wendet sich die ganze Museumsautorität gegen mich, und ich werde aller möglichen Aufsichtspflichtverletzungen beschuldigt.
Ich sage nichts und gehe. Mir ist das aufgeblasene Spiel zu dumm. Aber der Mann hatte das letzte Wort. Er schimpfte mit der Mama.
17. April 1983 (1 Jahr, 8 Monate)
Wir sind ziemlich viel in der Stadt unterwegs - natürlich auch im Grunewald und an anderen Ausflugsorten. Überall sind Motorräder zu sehen. Anneli bleibt bei jedem Motorrad stehen und betrachtet es fasziniert; sie berührt die Maschinen und möchte auch immer wieder darauf sitzen, was sie ab und zu darf. Natürlich kommen manchmal die jeweiligen Eigentümer der Maschinen, stellen sich daneben, ziehen sich höchst zeremoniell ihre Lederjacken, Helme usw. an. Anneli ist sehr beeindruckt von alledem. Es sind jedesmal Männer -immer wieder Männer.
Wir
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