Typisch Mädchen
treffen Jürgen in der Stadt im Café »Möhring«; mit welchem Gefährt kommt er - mit seinem Motorrad. Auch ihr lieber Jürgen fährt eine Maschine - natürlich ist er ein Mann! Sie sagt in der Zwischenzeit schon: »Mann - Motorradi.« Es ist unvermeidbar. Ich kann ihr doch nicht bei jedem Motorradfahrer dazu erzählen, daß das auch Frauen können. Ehe Anneli ihre eigene Geschlechtsidentität überhaupt erkennt, weiß sie bereits, welche Lebensbereiche Männern zuzuordnen sind. Sie ist jetzt eindreiviertel und weiß: Mann redet, Mann autofahren , Mann - Motorrad, Mann Bussi, Frau nackig, Frau putzen.
Wir müssen Kinderkleidung für den Sommer einkaufen. An-neli ist daran überhaupt nicht interessiert. Ihr ist es egal, was sie anhat, es darf nur nicht zwicken und kratzen. Ich kaufe das Nötigste, und wir fliehen das Kaufhaus. Zu Hause möchte ich aber dann schon an ihr sehen, was ich gekauft habe und ob es paßt. Sie will immer noch nicht probieren. Jetzt geht es mir auf die Nerven, daß sie dafür keinen Sinn hat, schließlich gebe ich Geld aus, freue mich und will, daß sie nett aussieht. Ich will, daß sie die Freude mit mir teilt. So schicke ich sie jedesmal, wenn ich ihr eines der neuen Kleidungsstücke angezogen habe, vor den großen Spiegel ins andere Zimmer. Ich sage ihr dabei, wie nett sie aussieht. Anneli geht nach mehreren Wiederholungen darauf ein und beginnt Freude zu zeigen, wenn sie vor dem Spiegel steht. Dabei sieht sie mich intensiv an. Ich verstehe, was dieser Blick bedeutet: »Bin ich nicht gut, daß ich mich jetzt dir zuliebe über das neue Stück freue?«
Sie hat den Wert neuer Kleidungsstücke und des »Schönseins« durch meine Erwartung gelernt. Meine Emotionen, die ich ihr ziemlich stark vorführte, hat sie nachgeahmt, und sie sind ebenso Vorbild wie viele andere Verhaltensweisen.
Ich bin mir vollkommen sicher, daß mir bei einem Sohn das modische Desinteresse nicht auf die Nerven gegangen wäre. Ich hätte in ihm nicht im letzten Winkel meiner Vorstellungen einen Ansprechpartner für meine Freude an neuer Kleidung erwartet, sondern ihn in seinem Desinteresse akzeptiert, weil er ja schließlich ein Bub ist. Bei einer Tochter sieht das natürlich ganz anders aus. Die Mutter duldet nicht, daß das Mädchen anders ist/ Nicht, daß ich mich bewußt hinstellen und sagen würde, sie solle ja nichts anderes werden als ich, nein, meine Intentionen waren nun wirklich ganz gegensätzlicher Natur. Und trotzdem sitzt es ganz tief in mir, daß ich meine Tochter mit gleichem Maß messe wie mich selbst. Abweichungen werden nicht zugelassen: »Die Mutter drückt dem Kind ihr eigenes Schicksal auf.« 8
Simone de Beauvoir findet sogar bei hochherzigen, auf das Kindeswohl bedachten Müttern diese Tendenz. Sie entstehe aus dem Gedanken heraus, es sei klüger, aus dem Kind eine »richtige« Frau zu machen, denn als solche werde sie leichter in die Gesellschaft aufgenommen.
21. April 1983 (1 Jahr; 8 Monate)
Wir sind im botanischen Garten, und Anneli läuft kindlich harmlos herum. Wir werden dreimal von Parkwächtern angesprochen, die uns sagen, was wir nicht dürfen: den Rasen betreten, hinter eine Kette laufen oder gar mit den Steinchen am Weg schaufeln. Es ist jedesmal ein Mann, der das Verbot ausspricht.
Am Tag vorher im Zoo wurde ihr ebenfalls von einem männlichen Wärter verboten, an einer Kette zu schaukeln. Vor einer Woche auf dem Markt wies sie ein Mann zurecht, als sie, um eine Ecke abzuschneiden, quer über den am Boden zum Verkauf ausgelegten Stoff lief. Von fremden Frauen war sie noch nicht geschimpft worden, hatte sie noch nichts verboten bekommen. Liegt es daran, daß in Institutionen die Autoritätspersonen, die mit dem Recht, Kinder auszuschimpfen, ^ausgestattet sind, immer Männer sind? Auf diese Erlebnisse hin prägt Anneli die Zauberformel »Mann schimpft« für all das, was sie gerne tun möchte, aber von dem sie ahnt, daß es nicht erlaubt ist (zum Beispiel an allen Haustüren klingeln). Sie ist entwicklungsmäßig dabei, innere Autorität aufzubauen, indem sie sie benennt. Daß diese sich ausgerechnet im Bild des Mannes niederschlägt, ist nach ihren Erfahrungen innerhalb weniger Tage kein Wunder. Darüber hinaus sieht sie noch, daß auch ihre Mutter diesen Geboten und Verboten Folge leistet, manchmal sogar selbst die Zauberformel gebraucht. Ich ertappe mich dabei, daß ich gelegentlich, wenn auch sehr selten ein »Mann schimpft« gebrauche, um mich selbst aus einer kritischen,
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