Typisch Mädchen
nervigen Situation zu retten.
Mir beginnt klarzuwerden, warum Frauen in ihrem Auftreten Männern gegenüber größere Hemmungen haben als umgekehrt. Warum Männer einen Autoritätsvorschuß, besonders als Vorgesetzte, haben. Warum Frauen auch ihren Freunden, Ehemännern und Bekannten gegenüber defensiv und immer von dem Gefühl beseelt sind, alles recht machen zu wollen, sich nur ja keinen Fehler zu erlauben. Wenn Autoritäten in erster Linie männlich sind, wie soll da ein kleines Mädchen zum Aufbau eines geschlechtsneutralen Überichs kommen?
22. April 1983 (1 Jahr, 8 Monate)
Im Lauf des Tages fragt Anneli mehrere Male nach allen männlichen Bekannten, fragt danach, wo sie denn seien. Rudi, Joachim, Papi, Walter, Hans - alle sind immer beim Arbeiten, und wundersamerweise haben ich und all die anderen Frauen nachmittags gelegentlich Zeit für sie zum Spielen. Die sind Lehrerinnen, arbeiten halbtags oder haben nachmittags mal früher frei und nehmen sich dann Zeit. Frauen sind gegenwärtiger in ihrem Leben. Männer umgibt immer die geheimnisvolle Aura des Woandersseins. Erst jetzt, als mir diese Tatsache auffällt, weil sie gehäuft auftritt, beginne ich zu überlegen, daß ich zu Hause in München auf ihre tägliche Frage, wo denn der Papi sei, regelmäßig zur Antwort gebe: »Bei der Arbeit.« Gleiches hört sie auch, wenn sie nach dem Verbleib der Väter ihrer jeweiligen Freunde fragt: »Bei der Arbeit«, geben die anderen Mütter zur Antwort.
Tun denn die Mütter den ganzen Tag zu Hause nichts? Wer hat uns denn allen - Männern und Frauen - das Gehirn so verdreht, daß als Arbeit nur zählt, was Geld bringt und außer Haus stattfindet? Schuld daran ist doch wohl die Selbstverständlichkeit, mit der auf unsere kindlichen Fragen die Tätigkeit des Mannes von den Müttern als »Arbeit« bezeichnet wurde und wird, während die eigene Tätigkeit sich atomi-sierte in lauter Einzelbegriffe wie kochen, waschen, putzen, aufräumen, mit dem Kind spielen, einkaufen, spülen usw. -in alles, nur nicht in »arbeiten«.
Anneli will immer wieder ein neues Bilderbuch ansehen, das sie geschenkt bekommen hat. Das Buch ist eine kitschige, süßliche Geschichte von einem kleinen Mädchen und seinen alltäglichen Erlebnissen in betont »weiblichem« Stil. Beispiel: »Heute scheint die Sonne, da muß ich meinen Sonnenhut aufsetzen; sehe ich damit nicht süß aus?« Sie ahmt die Gesten, zum Beispiel Finger in den Mund stecken, verbunden mit Augenaufschlag, schon nach. Natürlich kommen in dem Buch auch Buben vor, aber ich bezeichne sie immer bloß als Kinder und vermeide, sie mit ihrem Geschlecht zu benennen. Trotzdem - ich weiß nicht, wie es kommt -, wo immer ein Bub auftritt, benennt sie ihn sofort richtig. Ihre Fähigkeit, Geschlechter zu differenzien, ist also offenbar bereits ausgebildet.
Wir sind abends am Brunnen neben dem Spielplatz. Es taucht eine Gruppe etwa 20jähriger auf, zwei Mädchen, zwei Männer, die zur Gitarre singen. Der Gitarrespieler hat lange Haare und trägt Jeans wie die anderen auch. Für Anneli ist das der Mann - und sie wird den ganzen Abend noch von ihm schwärmen. »Mann Gitale spielen!« Ich habe ihn sicher nicht als Mann bezeichnet, und mit den anderen aus der Gruppe hatte sie keinen Kontakt aufgenommen, um den Unterschied vermittelt zu bekommen. Lag es daran, daß er der Hauptakteur der Gruppe war? Ich frage mich immer wieder, woran sie erkennt, wann eine Person ein Mann, eine Frau, ein Bub oder ein Mädchen ist. Auch wenn es an äußeren Signalen fehlt, von denen ich glaubte, daß ein Kind an ihnen den Geschlechtsunterschied erkennen kann, bezeichnet sie das Geschlecht doch ganz sicher. Vielleicht gibt es für ein Kind Ausdrucks- und Bewegungssignale von Frauen und Männern, die wir nicht mehr erkennen, weil unser Wahrnehmungssystem durch die Selbstverständlichkeit der Frau/Mann-Rollen abgestumpft ist. 9
Wenn wir auf einer Reise in einem fremden Land sind, dessen Sprache, Schrift usw. wir nicht beherrschen, müssen wir uns an anderen Dingen orientieren. Wir beobachten Gesten, Gesichtsausdruck, Augenausdruck, Körperhaltung - mit einem Wort das ganze Auftreten und wissen, mit wem wir es zu tun haben. Warum soll es für Kinder in der Erwachsenenwelt an-ders sein? Wir, die Erwachsenen, sind die exotische Gesellschaft, und darin müssen sich unsere Kinder zurechtfinden. Sie sehen daher mit ihren ganz sensiblen Wahrnehmungen, empfindlichen Sensoren vergleichbar, alles an geschlechtsspezifischen
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