Typisch Mädchen
seines reaktiven Verhaltens geriet wieder einmal das Mädchen, obwohl die Ursache vom Buben gesetzt worden war. Sie hat nicht zu heulen, wenn er sie verletzt. Er dagegen braucht das Verletzen nicht zu unterlassen.
11. September 1984 (3Jahre)
Anneli fragt mich auf der Alp: »Mami, seh ich wie ein Laus-bua aus, weil ich so kurze Haare habe?« Ich: »Ja, du bist mein Lausdeandl.«
Anneli akzeptiert aber nicht Lausdeandl, sie besteht auf Lausua. Eine Stunde später spiegelt sie sich in meiner Sonnenbrille und stellt besorgt fest: »Gell, meine Haare sind schon noch kurz.« Ich: »Warum?«
Sie: »Weil ich dann noch ein Lausbua bin.«
12. September 1984 (3Jahre)
Es ist Zeit für die Kinder, ins Bett zu gehen. Anneli und Schorschi ziehen sich aus. Schorschi läßt seine Kleider am Boden verteilt liegen. Als ihn sein Vater daraufhin anspricht, sie aufzuräumen, packt Schorschi seine Kleidung, trägt sie in die Küche, wirft sie Christa vor die Füße und sagt: »Du aufräumen - ich nicht.«
13. September 1984 (3Jahre)
Wir wandern zu einer Alp. Anneli verkündet, sie müsse nun pinkeln, daraufhin fällt es auch Schorschi ein. Anneli setzt sich in die Hocke, Schorschi tut es ihr gleich. Da geht Christa zu ihm hin, kichert zuerst und lacht dann hellauf. Sie macht die übrigen Erwachsenen darauf aufmerksam, wie Schorschi pinkeln will. Auch Schorschis Vater lacht lauthals. Dann packt Christa Schorschi, trägt ihn etwa fünf Meter weit weg von der Stelle, an der er sich hinhockte, stellt ihn an den Rand der Schlucht und sagt: »Schau, jetzt kannst du ganz weit und toll hinunterpinkeln. Streck doch dein Pimmelchen vor.« Schorschi tut es, und er erntet Lob von beiden Eltern. Beide stehen neben ihm und bereden hellerfreut, wie sehr sein Pim-mel steht und sich vorstreckt. Das Lob lautet: »Wie schön er das macht.«
Anneli stand die ganze Zeit daneben. Sie wurde von niemandem beim Pinkeln bewundert. Bei ihr scheint es ein ganz normaler Körpervorgang zu sein. Für den Rest des Tages will sie nur ohne Unterhose laufen, und bei jedem Pinkeln streckt sie übertrieben weit ihren Bauch vor und bemüht sich, einen ganz besonders weiten Strahl zu erzeugen. Beim Abstieg von der Alp spielen die Kinder »mich ins Gefängnis stecken«. Anneli packt mich ganz fest an den Hand gelenken und sagt: »So, jetzt kettle ich dich und dann häng ich dich auf.«
Ich frage: »Warum?« Sie: »Weil du eine Frau bist.«
Es war keine Phantasie von mir; das Plakat der geketteten Frau vor wenigen Wochen war bei meiner Tochter nicht ohne Wirkung geblieben. Welche Wirkung hat es wohl auf die kleinen Buben?
16. September 1984 (3Jahre)
Beim Wandern unterwegs treffen wir auf ein kleines Gatter. Ich weiß bereits von vielen anderen Wanderungen, daß An-neli sich sofort auf das Gatter stürzen, daran herumklettern und turnen wird. Schorschi sieht es hinter ihr und will es ihr gleichtun. Er rennt ebenfalls darauf zu, schubst Anneli weg und klettert über das Gatter. Anneli steht jetzt daneben und schaut ihm zu. Als er drüber ist, klettert sie ihm nach. Schorschi wird nicht darauf aufmerksam gemacht, daß er Anneli auch als erste klettern lassen solle. Christa und ich stehen daneben und erörtern das Problem, daß an dieser Szene sich wieder einmal ablesen lasse, wie sehr Schorschi von den Ideen Annelis dominiert werde, und daß die Gefahr bestünde, daß er nur noch Anneli alles nachmache und selbst keine eigenen Ideen mehr entwickele. Christa meint, dies sei seiner eigenen Persönlichkeitsentwicklung sehr abträglich. Wir diskutieren nicht das Problem, daß sich der Bub die Idee des Mädchens aneignet, sie zu seiner eigenen macht und bei der Verwirklichung das Mädchen zur Seite drängt. Wir machen uns keine Gedanken darüber, daß die Persönlichkeitsentwicklung des Mädchens dadurch Schaden nehmen könne, daß es im Ansatz bereits bei der Umsetzung der Idee in Taten vom Buben verdrängt wird und zusieht, wie er als erster etwas »macht«.
Ist es nicht wie bei den gemischtgeschlechtlichen Gesprächen, in denen ein Gedanke, die Idee einer Frau nicht gehört wird, bis sie von einem Mann nochmals aufgegriffen wird und, von ihm vorgetragen, dann allseits Aufmerksamkeit findet? 51 Schon früh werden die Mädchen daran gewöhnt, daß die Verwirklichung eigener Gedanken und Ideen ihnen gar nicht zusteht, daß sie höchstens nachahmen dürfen, daß Akti vität von Buben kommt.
Ich denke, das ist unsere »angeborene« weibliche Passivität -oder etwa nicht?
17.
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