Typisch Mädchen
September 1984 (3Jahre)
Wir spazieren an einem kleinen See entlang und begegnen einer Frau mit einem Baby im Kinderwagen und einem etwa dreijährigen Sohn, der am Ufer entlang ein Schiff durch das Wasser zieht. Ich mache Anneli aufmerksam: »Ui, schau mal, Anneli, da ist ein kleines Baby. Geh doch mal hin.« Ich sage nicht: »Schau mal, da ist ein Schiff, geh doch mal hin und spiel mit.«
Frauen sind bekanntlich von Natur aus personenbezogen, Männer sachbezogen.
Anneli besteht zu Hause darauf, Martin (fünf Jahre) anzurufen. Ich wähle, höre, wie der Hörer auf der anderen Seite abgenommen wird, und dann ist lediglich ein Schnaufen zu vernehmen. Kein Name, kein Hallo-nichts. Ich vermute, daß dies Martin selbst ist, und bitte ihn, seine Mutter ans Telefon zu holen. Ein lauter letzter Schnaufer, dann höre ich Ellen. Sie entschuldigt Martin sofort mit der Bemerkung: »Er kann eben keine verbindlichen Worte; bei ihm ist das schon typisch männlich, immer nur das Wesentliche, man muß da schon >Tacheles< reden. Das ist nicht wie bei den Frauen und Mädchen, die so viel schwätzen können, er ist eben ein Mann.« Für mich war es einfach nur Ungeschicklichkeit - aber was immer »Männer« auch machen, es wird nicht negativ bewertet.
Abends ist unter den Erwachsenen ein vorbereitendes Treffen für den Kinderladen. Die Erzieherin erzählt, wie bei den Spielen der vier Kinder (drei Mädchen, ein Bub) Schorschi manchmal in die Defensive gerate, auch ein Mädchen sein möchte und darauf bestehe, ein Baby bekommen zu können.
Auf dem Gesicht einer Mutter spiegelt sich Entsetzen. Sie stellt fest, wie traumatisierend'das für Schorschi in seiner Entwicklung zum Mann sein könnte und welche Identifikationskrisen daraus entstehen könnten.
yffeno. ein Mädchen ein Bub sein will, reagieren die Erwachsenen anders. Sie lachen, wie es in Südtirol war, als sich die Mädchen mit ihren kurzen Haaren nur als Buben fühlten. Das ist lustig, und kein Mensch zerbricht sich den Kopf über deren Identifikationsprobleme als Frau.
18. September 1984 (3Jahre, 1 Monat)
Anneli sieht ein Cover einer Platte mit klassischer Musik herumliegen. Sie fragt: »Macht der Mann die Musik?« und deutet auf das Bild. Ich antworte mit »Ja«. Im gleichen Augenblick fällt mir die Assoziation ein zu der Situation vor einem Jahr (siehe 20.November 1983), in der ich nicht verstand, warum Anneli Musikmachen immer nur Männern zuschrieb. Jetzt wird es mir klar! Ich sehe unsere Plattencover durch und stelle fest, daß von 95 Platten nur drei das Bild einer Frau ziert, davon sind zwei Bilder klassische Gemälde von Frauen, das dritte stellt eine Puppe dar. Die restlichen Bilder sind Landschaften, Städteansichten, Musikinstrumente und Männergesichter - immer wieder, in der Gruppe, als Quartett oder Orchester oder als großer Meister. Versteht sich, daß Musik nur von Männern kommt. Bei den Plattencovern der Unterhaltungsmusik ist es im übrigen nicht besser. Nur auf den Covern ist eine Frau zu sehen, auf denen sie selbst Star ist.
Zwischendurch stellt Anneli plötzlich fest: »Mami, ich kitzel mein Mädi (ihr Geschlechtsteil) jetzt nicht mehr.«
Ich frage zurück, warum nicht mehr.
»Ja, weil das der Schorschi auch nicht tut.«
Ich: »Aber der hat doch gar kein Mädi zum Kitzeln.«
Sie: »Warum hat der bloß ein Schwanzi?«
Ich: »Weil er ein Bub ist.«
Daraufhin Anneli in bedauerndem, enttäuschtem, mitleidigem Ton: »Aber das macht doch gar nichts, Mami, gell, daß der Schorschi kein Mädi hat?« In ihrer Stimme schwingt mit: Ich mag ihn trotzdem.
19. September 1984 (3Jahre, 1 Monat)
Anneli und Schorschi spielen und toben halbnackt im Haus herum. Nachmittags ist eine gemeinsame Unternehmung aller Kinderladenkinder mit den Eltern geplant. Sie müssen sich also anziehen. Anneli verlangt ihren Rock. Mir ist es egal, und sie holt ihn sich aus ihrer Kommode. Schorschi steht am Treppenabsatz und reklamiert laut und deutlich für sich ebenfalls einen Rock. Ich ignoriere ihn und gehe in die Küche, um irgend etwas herzurichten. Er kommt mir nach, stellt sich vor mich hin und wiederholt seine Bitte. Natürlich sage ich nicht nein, aber ich versuche, ihn jetzt mit irgendeinem Essensangebot von seiner Bitte abzulenken. Er geht darauf ein und ißt. Ein Gefühl der Erleichterung stellt sich bei mir ein, und ich glaube, mich geschickt aus der Affäre gezogen zu haben, da fängt er wieder an mit seinem Verlangen nach einem Rock. Ich werde unwillig und stelle
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