Tyrannenmord
Einzelnen geht und auf der anderen Seite wie in einer Diktatur sich eine stumme Mehrheit diesem hilflos ausgesetzt fühlt.«
»Na, klar, Isabell, ich finde das springt einem geradezu ins Auge: Auf der einen Seite dieser, nur auf seinen Vorteil Bedachte, über Leichen gehende Thomsen mit seiner, den Menschen die Atemluft raubenden, stinkenden, lärmenden Armada, und auf der anderen Seite, die das ungeschützt auszubadenden Opfer. Das prekäre dabei ist, dass hier ähnlich wie bei einem Despoten, demokratische Mittel nicht sofort greifen. Oder erst, wenn alle Instanzen bemüht worden sind, nur haben dann womöglich die Betroffenen bereits alles verloren. Und um jetzt direkt auf Berger zurückzukommen, so erscheint mir nach wie vor der wichtigste Aspekt zu sein, dass er gefühlsmäßig endlich wieder – nicht zuletzt deswegen war er ja bei der Fremdenlegion – ein richtiges Zuhause, eine Heimat gefunden hat. Und der neuerliche Verlust und sein ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein, sagt ihm, dass er nun schnell handeln muss und da befindet er sich ja in seinem ihm wohlbekannten Element!«
»Genau!«, bekräftigte Isabell zustimmend, »und so reift in ihm der Plan, sich an dem zu rächen, den er für den Verursacher ihres ganzen Unglücks hält. Gegen die einmal losgetretenen Bikerhorden war er natürlich, wie die anderen Betroffenen, so gut wie machtlos. Da ist es folgerichtig diesen rigoros zu entfernen. Dabei hat dieser Pastor namens Bernd Schmählich ja unverschämtes Glück gehabt, denn folgt man dieser Logik, wäre er trotz seiner tadellosen, weißen Schleife auf dem Gewand, gleich nach Thomsen dran gewesen.«
»Das hört sich ja nicht gerade nach brav zahlendem Kirchenmitglied an.«
»Nöö, Paul, dazu bin ich irgendwie zu sachlich auf die Welt gekommen, und ich denke eher so in der Richtung, hilf dir selbst, so hilft dir Gott. Und zum Glück kann eine Frau das im Hier und Jetzt frei äußern, ohne gleich als Hexe auf dem Scheiterhaufen zu landen«, erinnerte Isabell an zurückliegende, dunkle Zeiten. »Wie man heute Mitglied einer Kirche sein kann, die die Vernichtung von Zigtausenden Frauen auf dem Gewissen hat, wird mir ewig ein Rätsel bleiben.«
»Es ging und geht schlicht um Macht, da hat sich im Prinzip nicht allzu viel geändert«, antwortete Schmidt. »Sie ist heute nur in anderen Formen anzutreffen. Aber eines haben sie alle gemein: Bei der Ausübung gibt es immer Verlierer. Und das sind dann zumeist die, die unbewusst unter ihrer eigenen, nicht eingestandenen Bedeutungslosigkeit leiden und sich Kanäle suchen, um diese zu kompensieren. Wenn aber die Lebensräume der Mitmenschen dafür herhalten müssen«, fuhr Schmidt fort, »kann es, wie wir bei unserem aktuellen Mordfall an der Biker-Problematik gesehen haben, zu prekären Situationen kommen. Das werden die Väter des Paragraphen 1 der Straßenverkehrsordnung schon geahnt haben, als sie diesen wunderbaren, auch für alle übrigen Lebensbereiche richtungsweisenden Text in die Welt setzten - einen Moment, ich hätte da was.« Schmidt kramte in seiner Schreibtischschublade und hielt seiner Kollegin dann eine Kunstpostkarte entgegen, auf der ein schlichter Grabstein abgebildet war, in dem in eingravierter, verwitterter Schrift Folgendes zu lesen war:
Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.
Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet, oder mehr als nach den Umständen vermeidbar, behindert oder belästigt wird.«
Ja, es überrascht immer wieder«, pflichtete Isabell bei, »dass dies ein trockener Paragraph sein soll.«
»Nicht wahr? Aber letzten Endes ist es nur ein schöner Traum von vorgestellter Humanität«, erwiderte Schmidt, »denn real ist der Text längst zu einem Epitaph, einer Grabschrift für einen Verstorbenen mutiert.«
16. Ein Brand mit Folgen
In der Bezirkskriminalinspektion hatten sie sich an diesem Freitag etwas früher in das Wochenende verabschiedet, aber ganz abschalten ließ sich natürlich nie, wenn man wie Schmidt und Isabell an einem aktuellen Fall dran war.
Zu Hause angelangt, bereitete sich Schmidt einen Cappuccino zu und machte es sich anschließend in einem seiner Segeltuchsessel bequem. Würden sie den eigentlichen Mörder des Kneipiers jemals zu fassen bekommen? An dem maßgeblichen Teil der Tatwaffe, dem gefiederten Pfeil, hatten sich, außer ein paar winzigen Fasern, die darauf schließen ließen, dass der
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