Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Über Alle Grenzen

Über Alle Grenzen

Titel: Über Alle Grenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lama Ole Nydahl
Vom Netzwerk:
sie hatten fast ungeschult angefangen. Glücklicherweise sind Kagyü-Texte leicht verständlich. Wir mussten kämpfen, um den Raum nicht mit ihren einzigen Besitztümern beschenkt zu verlassen.
    Schließlich kam ein leerer Lastwagen. Da der Weg auf unserer Seite des Tals in der Zwischenzeit abgerutscht war, ging die Reise nun über den Fluss. Der Fahrer bestand darauf, dass wir über die uralte Brücke vorausgingen. Er wollte es dann mit Vollgas versuchen. Bei weniger Geschwindigkeit wäre das Fahrzeug einfach durch die morschen Bretter des wackeligen Gestells gebrochen.
    Die letzten Wochen hatten wir in Gebieten verbracht, in denen die Menschen noch nie zuvor ein weißes Gesicht gesehen hatten. Außer bei den Segnungen war es befreiend, wie wenig sie das Bedürfnis hatten, uns anzustarren. Auch hier zeigten die Tibeter mehr Stil als die anderen Bewohner der Dritten Welt. Im Dorf jenseits des Flusses wuchsen dafür uns Westlern Stielaugen: Maße und Verhältnisse der Häuser zueinander waren so vollkommen und ihr Einklang mit der Landschaft so gelungen, dass es sich wie ein lebendiges Ganzes anfühlte.
    Zu unserem Erstaunen verkehrte zwischen Chamdo und Derge gelegentlich ein Bus. Eigentlich durften keine Tickets an Ausländer verkauft werden, doch für die begehrte Touristenwährung wagten sie es trotzdem. Es war eine reine Wonne, einmal sitzend reisen zu können, mit einem Dach über dem Kopf und nicht halb liegend im Schnee auf einer offenen Ladefläche. Das Mädchen neben mir war die Schande der Familie. Sie hatte sich in einen Chinesen verliebt, was sonst fast nie vorkommt. Davor saß ein besonders erotisch eingestellter mongolischer Junge, der den Mädchen im Bus eindeutige Zeichen machte. Ich musste ihn alle fünf Minuten kräftig in den Sitz drücken, weil er lärmte und die schöne Aussicht versperrte. Er wurde aber erst still, als eine kräftige Khampa-Frau sagte: “Mal schauen, was der Kleine bringt”, und ihm in die Unterhose griff.
    Auch die Nomaden mit den runden Filz-Zelten waren spannend, ihre unbekümmerten freien Schwingungen taten gut. Sie waren viel offener als die sonst frischen sesshaften Khampas; sie mussten nicht ständig auf die Nachbarn achten. Bei den Nomaden gab es noch immer die großen rotbraunen Hunde, die in Zentraltibet in die Fleischtöpfe der Chinesen wandern. Nur bei Karmapas zerstörter Sommerresidenz - eine halbe Stunde von Tsurphu entfernt - hatte sich ein einziger gestörter Vertreter dieser Rasse unmöglich laut aufgeführt. Obwohl sie zweifellos mutig waren, war das Leben dieser Hunde elend. Ihre Ernährung war weitgehend wie die ihrer Artgenossen in Nepal.
    Die Tibeter erzählen die Geschichte eines großen Liebhabers, der viele Mädchen der Nomadenstämme beglückte. Wenn die Wachhunde eines Lagers ihn angreifen wollten, hockte er sich schnell hin, als würde er ein Geschäft verrichten. Während sie dann nach der erwarteten Mahlzeit suchten, sprang er zu der nächsten Schönen ins Zelt.
    Die Soldaten an der Brücke vor Derge schliefen. Im Nu mit unseren Seesäcken vom Bus springend, versteckten wir uns in der Kälte zwischen Baumstämmen, bis das erste Licht in einem Haus anging. Es war die Essstelle eines “tibetisierten” Chinesen, der tatsächlich ganz nett war. Er hatte sogar eine Weltkarte an der Wand hängen, auf der China große Teile von Russland und das ganze Himalayagebiet abdeckte. Es störte ihn aber keineswegs zu hören, dass das Grenzen waren, von denen der Rest der Welt nichts wusste.
    Derge hatte besonders während der Besatzung gelitten. Das Tal war wie geschaffen dafür, ein paar Jagdbomber durchzuschicken. Schon im Winter 1950/51 war die kleine Stadt das wichtigste Angriffsziel der Chinesen gewesen. Von den vielen Erklärungen, warum China gerade zu dieser Zeit Tibet angriff, halte ich eine einfache für sehr wahrscheinlich: Einige unzufriedene Generäle hielten sich damals näher bei Peking auf, als es Mao gefiel. Bevor sie ihm gefährlich werden konnten, schickte er sie nach Tibet. Schon damals hatte das Befreiungsheer des Volkes das Gebiet bis zu dem Fluss erobert, den wir gerade überquert hatten. Auf diese Weise besetzten sie das beste Drittel Tibets - voller Bodenschätze und mit den stärksten und freiesten Frauen und Männern. Nur ein wichtiger Kulturbau in der Stadt war unbeschädigt geblieben und durfte sogar benutzt werden, obwohl anscheinend nur unter strenger Aufsicht. Die sonst so selbstsicheren Arbeiter drehten fast durch, als Hannah

Weitere Kostenlose Bücher