Über Alle Grenzen
und ich in das Gebäude wollten. Es war “Bakhang”, die berühmte Druckerei Derges.
Unser Hotelwirt in Derge war zweifelsohne ein Spitzel, er verhielt sich peinlich untertänig. Eine solche Stellung gewähren die Chinesen keinem Tibeter wegen Tüchtigkeit, sondern nur, wenn man ihnen aus der Hand frisst. Der Wirt beteuerte zwar ständig seine vaterländische Haltung und klagte über die Besatzer, aber die Tibeter, die zum Handeln oder Unterhalten zu uns kamen, wurden mausestill, sobald er auftauchte. Als Pedro ein Jahr später alleine nach Derge reiste, kannte ihn der Wirt nicht mehr. Der Befehl zur “Offenheit gegenüber Westlern” war anscheinend abgelaufen. Hunderte von Freunden wurden zum Osterkurs im Wuppertaler Zentrum erwartet, also mussten wir weiter. Der berüchtigtste aller Pässe, ein 5,6 Kilometer hoher Bergkamm nahe Kantze, lag noch vor uns. Hier waren vor kurzem vier Reisende auf einem Laster erfroren. Doch diesmal merkten wir kaum die Höhe und sprangen auf dem Pass herum. Wir konnten die Freiheit unserer Atemwege feiern, und außerdem war die Aussicht einmalig. Auf der weiteren Strecke brannten sich zwei Eindrücke besonders fest ein: der sichtbare Reichtum der Berge an Bodenschätzen und die chinesischen Goldgräber, die dicht nebeneinander im Fluss standen und offenbar fündig wurden. Der Boden war so locker, dass die riesigen Mengen unglaublich feinen Staubs, die von den Vorderrädern des Lastwagens aufgeworfen wurden, sogar das Führerhaus bedeckten. Wie ein Riesenschlauch blieb die Staubwolke dann einfach unbeweglich in der Luft stehen, und das kilometerweit.
Wir lagen auf der Ladefläche und deckten mit unseren Körpern Pedros Videokamera und alles andere, was beschädigt werden konnte, ab. Plötzlich sprangen Hannah und ich auf. Durch die Staubwolken hindurch hatten wir eine Mauerfestung erahnt, die wir einfach kannten. Kurz darauf erfuhren wir, dass sie zu Atub Tsang am Goldfluss gehörte, wo sich der 16. Karmapa 1924 hatte wiedergebären lassen.
Als wir in Kantse von der Ladefläche sprangen, landeten wir fast auf einigen alten Lamas. Sie lebten in einem Kloster, das Kalu Rinpoche unterstand, und wollten Neuigkeiten über die höchsten Rinpoches erfahren. Glücklicherweise hatten wir noch einige Bilder zu verschenken.
Wir aßen in einem der unangenehmen Gasthäuser, ein stolzes Ergebnis der neuen Verhältnisse in Tibet. Die Türen zum Essraum mussten immer offen stehen, sogar bei schlechtem Wetter. Der Zugwind sollte die Leute daran hindern, froh und nicht werktätig herumzusitzen. Als ich ein paar Tibeter auf dem Weg zu den höher gelegenen ausgebombten Ruinen Kantses segnete, hielt uns ein hoch ausgezeichneter Offizier mit seinem Motorrad an. Das viele Blech an den Schultern und seine eingeführte Honda waren ein sicheres Zeichen, dass er ganz oben in der Rangordnung stand. In sehr gutem Tibetisch verlangte er, dass wir uns sofort auf der Polizeiwache melden sollten. Dort würden wir vielleicht die Erlaubnis erhalten, uns die Ruinen der Stadt anzusehen. Mit Freude sah ich einige Dutzend Tibeter näher kommen. Endlich gab es die lang ersehnte Möglichkeit, für sie eine Lanze zu brechen. Übertrieben herzlich klopfte ich dem Herrn mehrmals kumpelhaft auf die Schulter und sagte sehr laut: “Weißt du was? Das tun wir nicht. Wir sind viel mehr an den Tempeln interessiert als an deiner Polizeiwache. Wenn wir alles gesehen haben, kannst du uns unten bei den Bussen besuchen, wenn du willst.” Die Tibeter schluckten, und der Offizier jagte rasend mit Vollgas davon. Weder er noch seine Kollegen erschienen wieder.
Auch in Kantse war nur ein Tempel verschont geblieben, ein schöner alter Sakya-Tempel mit vielen Schützerstatuen. Diese Stadt ermöglichte es mir auch, endlich meine Hingabe für Guru Rinpoche auszudrücken. Weil er um das Jahr 750 den Diamantweg nach Tibet brachte, so wie wir jetzt die Lehre in den Westen bringen, bat ich oft um seinen Segen. Seine Abbildungen waren viel aufregender als die Statuen und Wandgemälde, die nun wieder in vielen Teilen des Landes zu sehen sind. Obwohl sie höchst tugendhafte Rinpoches und Mönche aus der Gelugpaschule darstellen: Ihnen fehlt einfach Guru Rinpoches Kraft. Was mich auf der Fahrt am meisten gestört hatte, war das fast völlige Fehlen äußerer Zeichen seines Einflusses. Es waren kaum Stupas und Bilder von ihm erhalten geblieben, obwohl Guru Rinpoche unter den Kulturhelden der Welt schon einzigartig ist. Während Pedro, Kurt und ich
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