Über Alle Grenzen
weiter über Land nach Caracas zu reisen. Unsere Gruppe wünschte auch, dass ich ein Mo machte, aber stattdessen fragte ich, was die Tickets kosteten. Da der Preis für die Busfahrt bei 20 Dollar und der für den Flug bei 200 lag, ließ ich meine Mala in der Tasche. “Hannah und ich reisen von den Spenden unserer Freunde”, sagte ich, “und ich will deren Geld nicht für Luxus ausgeben.”
Mein Respekt vor der Großzügigkeit meiner Schüler verschaffte unseren Schützern bald darauf eine Menge Arbeit. Früh morgens, zwischen einer Stadt namens Bucaramanga und dem berüchtigten Cucuta, sah Hannah plötzlich einen Tankwagen quer über die Straße stehen und Mädchen mit Schnellfeuergewehren davor. Einen Augenblick später standen Männer mit verschwitzten Gesichtern und verschlissenen Maschinenpistolen in der Bustür und forderten alle zum Aussteigen auf. Wir taten, was sie sagten. Sie waren so gereizt, dass niemand daran dachte, mit ihnen etwas zu bereden. Nachdem sie jeden nach Waffen abgetastet hatten – mein Bundeswehr-Bajonett hatte ich unter dem Sitz versteckt, es wäre hier von wenig Nutzen gewesen –, wurden wir die Straße hoch zu einem Dorf geführt, das die Guerillas besetzt hielten.
Mitten auf der Straße stand der Commandante, ein kleiner, starker Mann mit Kinnbart. Seiner Erklärung nach waren die fünfzehn bewaffneten, meistens maskierten Gestalten Teil der “Simon-Bolivar”-Guerillas der “Nationalen Befreiungs-Armee”. Sie waren gerade in einen größeren Angriff verwickelt und sprengten Brücken und Straßen überall im Land in die Luft. Also waren sie Linke, keine Rechten. Das bedeutete, dass unsere Leben, nicht aber unsere Sachen in Gefahr waren. Die andere Seite würde unser Gepäck stehlen und je nach Laune entweder schießen oder nicht.
Ich beschloss, sie nicht zu beachten. Sie verschwendeten unsere wertvolle Zeit, und ich war von der einheimischen Sitte der Geiselnahme nicht belustigt. Also schrieb ich eisern an meinem Manuskript weiter. Der Commandante hielt eine dreistündige, hasserfüllte und sich wiederholende Rede: Wir Gringos (Weiße) seien der Grund für alles Böse. Er verurteilte noch dazu die Klasse von Kolumbianern, deren Namen unsere Adressbücher füllten, als die schlimmste. Es gab also einiges zu tun. Während ich die letzten Seiten der englischen Ausgabe meines Buches “Mahamudra” beendete, schaute ich nach, wie ihre Schnellfeuergewehre – Marke F. N. – abgesichert waren, und wusste schon, wessen Waffe ich mir schnappen würde, falls es hart auf hart käme. Das größte Problem waren die Guerillas, die bestimmt aus den Hügeln alles überschauten. Im echten Karl-May-Stil gab ich Tomek zu verstehen, er solle die am meisten belastende Seite des Adressbuchs aufessen. Seine Erleichterung war sichtbar, als er ein Feuer entdeckte und sie ungesehen dort hineinwerfen konnte.
Straßenblockade
Die große Ehre, uns aus diesem Guerilla-Schlamassel gerettet zu haben, gebührt unseren Schützern. Ihre Arbeitsweise war erstaunlich. Obwohl wir wenige Meter hinter dem Commandante saßen, konnte er uns einfach nicht sehen! Jedes Mal, wenn ihn einer seiner Männer auf uns aufmerksam machte – wir waren die vier einzigen blonden Köpfe zwischen all den schwarzen und trugen orangefarbene und rote T-Shirts mit riesigen Buddhas darauf –, gingen seine Augen nach rechts, links, oben und unten, aber … blieben nie auf uns hängen. Genau in dem Augenblick, als mehrere zugleich auf uns deuteten und “Gringo” sagten, stellte ein grauhaariger orthodoxer Priester eine Frage, was ihn erneut ablenkte.
In der hinter uns liegenden Stadt wusste man von dem Überfall nichts. Also kamen Autos und Busse weiterhin den Hügel hochgefahren und wurden angehalten. Als die Guerillas mehr Geiseln hatten, als sie handhaben konnten, schickten sie uns einfach weg. Ihr letzter Gruß war das Versprechen, jeden zu töten, den sie wieder auf der Straße sehen würden. Dies überzeugte sogar mich, einen Flug zu nehmen. Es war zwar nicht langweilig gewesen, aber selbst die besten Schützer soll man nicht rund um die Uhr hetzen.
Jeder unserer Freunde in Bogotá hatte Verwandte, die als Geisel umgebracht worden waren. Sie wussten, welches Glück wir gehabt hatten, und waren heilfroh, uns wieder zu sehen. Abends brachten sie im Fernsehen die Ergänzung zu den Ereignissen: Wir waren in den größten Angriff seit dreißig Jahren verwickelt gewesen. Über vierhundert Menschen wurden an diesem Tag getötet,
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