Über Alle Grenzen
im Herbst 1982 kamen Hannah, meine Mutter, Gabi und Friedel aus Wuppertal mit. Shamarpa gab in Woodstock Belehrungen; anschließend hatten wir neun Tage Zeit, den Überführwagen zur Westküste zu bringen.
Die Tage in Los Angeles waren schlecht für unser bis dahin neutral-freundliches Verhältnis zu Bhagwan Shree Rajneesh. Während wir warme gebrauchte Kleider für die tibetischen Flüchtlinge einpackten, erschien der Guru im Fernsehen in einem langen weißen Gewand und redete gefühlstriefenden Unsinn. Seine wichtigste Behauptung war, alle Religionen seien dasselbe. Man muss nur des Lesens mächtig sein, um festzustellen, dass dies einfach nicht stimmt. Ich hatte immer gedacht, er sei als ehemaliger Professor wenigstens philosophisch auf einer klaren Ebene und brächte ein paar verklemmte Leute dazu, sich mehr zu lieben. Sein Benehmen war aber erstaunlich künstlich und aufgesetzt. Es war schwierig, sich einen stärkeren Gegensatz zu dem einfachen und natürlichen Stil der meisten tibetischen Lamas vorzustellen. Das tat mir Leid, denn die Welt braucht gute Lehrer, und er hatte ja Einfluss auf Tausende.
Auf der reizvollen Küstenstraße von San Louis Obispo nach Santa Cruz hörten wir, dass Bokar Tulku auf dem Weg nach Dänemark sei. Er war ein ausgezeichneter Meditationslehrer, der lange die Zurückziehungen in Rumtek, Sonada und Mirek leitete. Bokar Tulku war von Kim zum ersten Mal in den Westen eingeladen worden. Hannah sollte übersetzen und kehrte zurück nach Dänemark; ich flog zum ersten Mal nach Japan und zu den freien Exilchinesen.
Cesar und Yoshiko warteten am Flughafen in Tokio. Cesar war nun zweiter Mann - “Minister” - in der mexikanischen Botschaft. Die beiden wohnten mitten in der Stadt. Japan ähnelte einem gut gepflegten Minigarten, und die Menschen benahmen sich wie in einer Kaserne, äußerst genau. Es gab keine weit ausholenden Armbewegungen oder lautes Lachen, keine “Flips”; man erfüllte einfach seine Stellung in der Gesellschaft. Da sie wussten, wie gerne ich Auto fahre, überließen sie mir das Steuer, aber das erforderte etwas Kopfarbeit. Die Japaner fahren links und bemalen am liebsten die halbe Fahrbahn mit Beschränkungen.
Ich hatte vor, endlich “Die Buddhas vom Dach der Welt” ins Dänische zu übersetzen und entgegen allen Vorstellungen die Lehre in Japan in Gang zu bringen. Der Buddhismus in diesem Land ist vor allem politisch und weltlich gefärbt. Die Menschen besuchen die Tempel, um Geld und Macht zu erbitten, oder schließen sich in kleinen extremen Gruppen zusammen. Diese behaupten dann allen Ernstes, dass Buddha nur ein Sutra, nämlich ihres, gelehrt hätte, und dass alle anderen fehlerhaft und ohne Bedeutung seien. Danach ziehen sie sich Roben an und wandern gemeinsam um den Häuserblock: die “geistige Übung der Woche”.
Kurz vor meiner Ankunft hatte bereits Kalu Rinpoche Japan besucht. Alle wichtigen buddhistischen Lehrer hatten ihm geschrieben und für sein Kommen gedankt. Im nächsten Satz stand jedoch, dass sie leider keine Zeit hätten, ihn zu treffen, und obwohl der Besuch überall angekündigt worden war, kam keiner zu ihm. So flog Kalu Rinpoche nach drei Wochen wieder nach Indien zurück.
“Unterricht” in Nagoya
Um an Tokios Universitäten unterrichten zu können, bedurfte es eines “Gütestempels” des ansässigen tibetischen Komitees. Dies hätte Monate gedauert, weil es mit Dharamsala abgesprochen werden musste. Stattdessen nahm die gesamte mexikanische Botschaft, in der Cesar arbeitete, Zuflucht. Alle waren froh und überrascht zu sehen, dass es nicht nur Religionen gibt, die offenbart werden, sondern auch solche, die man selbst erfahren kann.
Einige Dutzend Westler kamen zu den Vorträgen, die ich in verschiedenen Tempeln hielt, und mehrere von ihnen nahmen Zuflucht. Bei den Japanern hatte ich nur unter den Damen Erfolg, und das auch nur bei einigen wenigen. Das Bewusstsein in Tokio wurde damals hauptsächlich von Nationalismus, Materialismus und Alkohol beeinflusst. Die kleinen Menschen dort lebten unter einem enormen selbst geschaffenen Druck und hatten nur wenig Zeit noch Kraft für geistige Entwicklung. Heute gibt es ein kleines Diamantweg-Zenrum in Tokio und ich besuche die Freunde regelmäßig.
In Nagoya war es anders. Dort wünschten wenigstens die Mitglieder eines Instituts, etwas zu lernen. Ich musste ihnen jedoch versprechen, sie nicht in Trancezustände oder Meditation zu versetzen. Eigentlich waren sie rührend, sie
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