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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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beide betrifft. Es tut mir allerdings leid, wenn ich in ein Wespennest gestochen habe.«
    Ja, dachte Matthias, da stimmt etwas nicht, ein Familiengeheimnis, hatte der Arzt gesagt. Allein die Existenz eines Halbbruders war schon eine große Überraschung, aber nun war noch eine weitere zu erwarten. Er beschloss, erst einmal seinen Bruder Holger und dann die beiden Schwestern Christa und Lydia anzurufen, um ihnen die Sachlage zu erklären. Ellen wollte er nicht schon wieder auf den Wecker fallen.
    Der in Schottland lebende Bruder Holger war inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Genau wie Matthias fand er es spannend, plötzlich einen weiteren Bruder zu haben. Matthias musste ihm genau berichten, wie der Neue aussah und ob er ihn sympathisch finde. Das Problem mit Amalia hielt er für sekundär. Es sei doch völlig egal, ob dieses Mädel ebenfalls mit Gerd verwandt sei oder nicht. Anders sah es die älteste Schwester Christa, die diverse abenteuerliche Theorien aufstellte, während Lydia kurz und bündig feststellte: »Man muss jetzt mit Mutter reden! Wenn ihr es nicht tut und zu feige seid, werde ich das übernehmen und sie heute noch anrufen!«
    »Damit sollte man auf jeden Fall noch warten«, sagte Matthias. »Wir wollen ihr doch nicht weh tun! Kann ja sein, dass sie von Vaters Affären keine Ahnung hatte!«
    »Wenn wir wirklich ein Familientreffen organisieren möchten, dann können wir sie doch nicht ausschließen! Und es geht einfach nicht, wenn wir erst beim gemeinsamen Mittagessen unseren frischgebackenen Halbbruder wie ein Kaninchen aus dem Zylinder ziehen. Also, was immer du vorhast, ich werde mich jetzt darum kümmern, Frauen können das sowieso besser.« Sie legte auf.
    Es war immer das Gleiche: Seine drei Schwestern liebten es leider, ein Gespräch vorzeitig und selbstherrlich zu beenden. Matthias war etwas verzagt bei Lydias Worten. Eigentlich war es doch Ellen, die Abend für Abend mit der Mutter beim Essen saß – war es nicht eher ihre Aufgabe, eine angemessene und behutsame Erklärung einzufädeln? Lydia nimmt kein Blatt vor den Mund, sie ist alles andere als eine Diplomatin.
    Da gab es nur noch eine Möglichkeit: Ellen musste Lydia zuvorkommen. Aber er erreichte sie nicht, weder Amalia noch Ellen schienen zu Hause zu sein. Weiber, Weiber, seufzte Matthias und gab auf.
    Hildegard Tunkel hörte nicht, dass ihr Telefon mehrfach läutete, denn sie war im Garten. In der abendlichen Dämmerung setzte sich auch Amalia gelegentlich zu ihrer Großmutter auf die morsche Holzbank. Dann wünschten sich beide, dass jetzt eine Nachtigall sänge, aber wenn es hoch kam, hörten sie noch die letzten Takte einer Amsel oder allzu laute Musik aus einem vorbeifahrenden Wagen. Hildegard wusste, dass der Duft einer Blüte intensiver ist, wenn sie von Nachtfaltern bestäubt wird. Da diese Blumen im Dunkeln nicht durch leuchtende Farben beeindrucken können, setzen sie ganz auf verführerische Düfte, um die zuständigen Schmetterlinge herbeizulocken. Es sind daher meistens weiße Blüten, die erst in den Abendstunden ihren starken, schweren Duft verströmen. Hildegard hatte Nachtkerzen, Madonnenlilien und Ziertabak gepflanzt und hielt nun auch an diesem warmen Abend die Nase in die Luft und schnupperte mit Wohlbehagen.
    So kam es, dass Lydia ihre Mutter erst erreichte, als beide eigentlich zu Bett gehen wollten. Hildegard musste sich anhören, dass ihr Mann einen außerehelichen Sohn hatte, der wiederum der Halbbruder ihrer Kinder war und den sie demnächst alle kennenlernen wollten. Die Äußerungen der alten Frau waren ziemlich wortkarg, sie murmelte nur gelegentlich so, so und am Ende: »Nun ist es aber genug, Lydia, ich bin sehr müde.«
    Und nach einer kleinen Pause: »Bist du noch dran? Dann schau mal aus dem Fenster, wir haben bald Vollmond. Gute Nacht, meine Kleine.«
    Als ihre Kleine bezeichnet sie sonst nur Ellen, dachte Lydia erschrocken, höchstens noch ihre Enkelinnen. War ihre Mutter so geschockt, dass sie die Tragweite gar nicht verstanden hatte? Lydia hatte auf einmal ein schlechtes Gewissen: Matthias als der vernünftige große Bruder hatte ihr geraten, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen.
    Am nächsten Morgen rief Lydia schon gegen sieben Uhr morgens bei Ellen an. Ob ihre Mutter schon aufgestanden sei? Ellen hatte wenig Zeit, wollte gerade frühstücken, Zeitung lesen und zwischendurch Amalia zur Eile antreiben. Mit Staunen hörte sie, was Lydia am Abend zuvor angerichtet hatte.
    »Sieh

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