Über Bord
doch mal nach, ob Mutter schon wach ist«, bat Lydia. »Sie hat so seltsam reagiert, dass ich fürchte, sie hat sich etwas angetan.«
»Da kennst du sie schlecht«, sagte Ellen. »Mutter ist völlig unsentimental. Im Übrigen habe ich vorhin die Toilettenspülung gehört. Sie steht aber meistens erst auf, wenn wir weg sind. Lydia, ich rufe dich in der Mittagspause an, dann sehen wir weiter.« Und Ellen legte ebenso abrupt auf, wie ihre Schwestern es zu tun pflegten.
6
Seit kurzem wusste Ellen, wie man ihre Angst vor Mäusen in der Fachsprache nannte: Musophobie. Ihrer Mutter war es ein Rätsel, dass eines ihrer Kinder sich vor einem harmlosen Tierchen fürchtete, denn Hildegard konnte fast jede Kreatur ohne viel Federlesen anfassen, fangen, zähmen, füttern und notfalls auch töten. Von ihren fünf Kindern war es nur Ellen, die sich hysterisch aufführte, wenn ihr ein winziges Mäuschen über den Weg lief. Neulich hatte sie sogar einen grässlichen Schrei ausgestoßen, weil sie ein graues Bällchen aus Staub und Spinnweb unter dem Sofa entdeckte. Da war ihre Enkelin doch von anderem Schrot und Korn, die sogar die Schlange ihrer Freundin zwei Wochen lang in Pflege genommen hatte.
Die musophobische Ellen deutete es natürlich als schlechtes Omen, dass eine Kollegin an diesem Vormittag lang und breit erzählte, wie sie eine träge – wohl hochschwangere – Maus in ihrer Küche angetroffen und mit Hilfe einer Käseglocke dingfest gemacht hatte. In der Mittagspause mochte Ellen ihr fettiges Leberwurstbrot nicht anrühren, wählte das kleinere Übel und rief missgestimmt ihre Schwester an.
Von Lydia erfuhr sie erst, dass man auch eine Speichelprobe von Amalia untersucht habe. Ellen war ziemlich erbost, dass ihre Tochter sich wie eine Intrigantin verhalten und hinter ihrem Rücken mit Gerd Dornfeld Kontakt aufgenommen hatte.
»Kaum zu glauben, aber wahr«, sagte Lydia. »Unser schlauer Matthias hat diesen Herrn Dornfeld tatsächlich in ein Genlabor gelockt! Die DNA -Analyse ist glücklicherweise ein Quantensprung in der Wissenschaft, früher hätte man einen Verwandtschaftsgrad niemals verlässlich nachweisen können. Gerd ist wirklich unser Halbbruder, aber Amalia ist nicht seine Halbnichte. Verstehst du das?«
»Und mit solchem Humbug hast du unsere arme Mutter belämmert?«, schrie Ellen zornig. »Sag mal, bist du noch bei Trost?«
Nun war Lydia beleidigt. »In diesem Ton lasse ich nicht mit mir reden. Matthias war zu feige, um Mutter reinen Wein einzuschenken. Einer musste es schließlich tun, ihr solltet mir dankbar sein.«
»Dann also herzlichen Dank für deine Unverschämtheit«, sagte Ellen und legte auf. Sie biss nun doch in ihr Brot, brach in Tränen aus und verschluckte sich.
Bis zum Abend hatte sie sich wieder gefangen und beschloss, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Amalia war im Kino, Hildegard hatte gekocht und benahm sich nur insofern auffällig, als es keine Quarkkeulchen, sondern gefüllte Paprikaschoten mit Reis gab. Der uralte Küchentisch glänzte frisch geölt und duftete nach Olivenöl. Es schmeckte beiden sehr gut.
»Lydia hat dich also angerufen«, begann Ellen vorsichtig. Ihre Mutter kaute und nickte bloß.
»Was sagst du zu den Neuigkeiten?«, hakte Ellen nach und bekam plötzlich rote Flecken im Gesicht.
Hildegard schluckte den Bissen hinunter. »Reg dich nicht auf«, meinte sie gleichmütig. »Dieser junge Mann kann ja nichts dafür.«
»Mutter, der ist nicht mehr jung, der ist älter als ich!«
»Aber das weiß ich doch«, sagte Hildegard, »für mich bist du aber auch noch ein junges Ding.«
Schließlich gab sie zu, von Gerd Dornfelds Existenz schon immer gewusst zu haben. »Nachdem dein Vater die Fabrik verkauft hatte, war er eine Zeitlang wie ausgewechselt – als wollte er auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Im Nachhinein denke ich manchmal, Rudolf hat seinen frühen Tod vorausgesehen und wollte noch etwas erleben. Aber er hat die peinliche Angelegenheit ja auf seine Art in Ordnung gebracht.«
Ellen verstand nicht ganz, wie das gemeint war. Nun erfuhr sie, dass ihr verstorbener Vater dafür gesorgt habe, dass seine schwangere Freundin einen anständigen Mann heiratete. Mit Geld könne man manches zum Guten wenden. Mehr wollte die alte Frau nicht verraten, aber sie schien weder verstört noch unglücklich zu sein.
»Das liegt lange zurück«, sagte sie. »Damals habe ich zwar sehr gelitten, aber inzwischen ist es längst abgehakt. Wenn ihr also ein
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