Über Bord
Pollern herum und warteten auf einen endgültigen Befehl. Ellen war nervös und schaute dauernd auf die Uhr, von Gerd oder Ortrud keine Spur. Zur Verwunderung der Passagiere ertönte plötzlich eine Durchsage, dass noch nicht alle Gäste an Bord seien und die Abfahrt sich etwas verzögere. Amalia und Ellen liefen jetzt zur Heckseite, von wo man die Uferstraße besser im Blick hatte. Erst nach zwanzig Minuten stoppte ein Taxi direkt vor dem Anlegeplatz, Ortrud zahlte und stieg aus, winkte den Gaffern majestätisch zu und kletterte in gemessenem Tempo die Hängetreppe hinauf. Kaum war sie oben angelangt, als die Filipinos schleunigst die Gangway hochzogen.
Man konnte leider nicht sehen, wie Gerd seine Frau in Empfang nahm, obwohl es sich Ellen genüsslich ausmalte. Auch Amalia murmelte schadenfroh: »Das wird wohl Zoff geben!«
Beim Abendessen blieben Gerd und seine Frau weitgehend stumm. Ortrud trank nur ein halbes Glas Wein und eine Tasse Bouillon. Auf Ellens leicht maliziöse Frage, wie der Ausflug gewesen sei, kam nur eine einsilbige Antwort. Nach fünf Minuten bequemte sie sich jedoch zu einer trotzigen Auskunft: »Ich musste unbedingt nach Granada, weil wir dort vor Jahren einmal glücklich waren.«
Amalia blickte Ellen vielsagend an, was Ortrud jedoch nicht entging. Sie stand auf, behauptete, stundenlang gewandert und müde zu sein, und verschwand.
Nach dem Essen gab es ein A-cappella-Konzert im großen Saal. Gerd trottete hinter Ellen und Amalia her, weil er offenbar nicht wusste, was er sonst machen sollte. Das Vokalensemble bestand aus fünf Männern in schneeweißen Anzügen und Schirmmützen, die alte Schlager und Evergreens vortrugen. Zum Auftakt sangen sie passend zum heutigen Landgang in Málaga:
Schöne Isabella von Kastilien,
pack deine ganzen Utensilien,
und komm zurück zu mir nach Spanien!
»Das kenne ich«, stellte Amalia erfreut fest. »Oma hat mir dieses Lied vorgesungen, außerdem noch andere Songs der Comedian Harmonists, zum Beispiel Mein kleiner grüner Kaktus. «
Ellen überlegte, dass ihre Mutter eigentlich eine angenehme Erinnerung an jene verhängnisvolle Nacht haben musste, wenn sie genau dieses Lied ihrer Enkelin vorsang.
»Im Grunde verdanke ich dem grünen Kaktus meine Existenz«, flüsterte sie, doch weder Amalia noch Gerd verstanden die Anspielung. In der Pause erzählte sie ihnen, dass ihre Mutter und der unbekannte Erzeuger sich beim übermütigen Singen nähergekommen waren. Amalia gefiel diese Vorstellung so gut, dass sie sich sofort hinter die Bühne schlich und die Sänger darum bat, als Nächstes das bewusste Lied zu singen. Und kurz darauf hörte man:
Was brauch’ ich rote Rosen, was brauch’ ich roten Mohn… Nachdem die heitere Melodie verklungen war, sagte Gerd so leise, dass es nur Ellen hören konnte: »Das nächste Mal versuche ich es nicht durch die Blume, sondern mit einem kleinen grünen Kaktus! Hollari, hollari, hollaro!«
Ellen errötete wie eine Vierzehnjährige, bei diesem zweiten Anlauf. Aber was sollte aus so einer Ferienromanze werden? Sie bekam Herzklopfen und wagte nicht, diesem wunderbaren Mann in die Augen zu sehen.
15
Wie schon am Tag zuvor wurde Ellen früh wach und schaute lange aus dem Fenster aufs Meer hinaus. Um acht Uhr sollte Cartagena erreicht werden, bis dahin war noch etwas Zeit, doch das Lotsenboot näherte sich bereits dem Schiff. Kurz vor dem Ziel passierten sie einen Marinestützpunkt, wo Schiffe von hässlich grauer Tarnfarbe vor Anker lagen.
Die Durchsage des Kapitäns holte alle, die den Lautsprecher in ihrer Kabine nicht abgestellt hatten, aus den Federn. Er versprach schönes Wetter für den ganzen Tag, der Hafen werde pünktlich erreicht. Ellen war gutgelaunt, sie trug heute eine ihrer schönsten Leihgaben: eine luftige Tunika mit einem floralen Muster in Lila, Türkis und Weiß. Gerade als sie zur Tür hinausschlüpfen wollte – Amalia hatte die schläfrigen Augen nach der Ansage wieder zugeklappt –, klingelte das Telefon.
Gerd wünschte noch nicht einmal Guten Morgen, sondern kam gleich zur Sache. Ob sie oder Amalia wüssten, wo seine Frau sein könnte. Verblüfft erfuhr Ellen, dass Ortrud zwar gestern Abend brav in der Kiste lag, aber wohl irgendwann im Morgengrauen ihr Bett verlassen haben müsse. Gerade sei ein Anruf von der Rezeption gekommen, ein Passagier habe auf einer Treppe ihren Bordausweis gefunden.
Ellen lief sofort hinaus und half Gerd bei der Suche, wobei sie jeden – egal ob Fahrgast oder
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