Über Bord
Mitglied der Crew – nach Ortruds Verbleib befragten. Gerd fluchte vor sich hin, schien sich aber eher zu ärgern, als Angst zu haben. »Wenn sie sich in irgendeinem Zodiac versteckt hat, um mich an der Nase herumzuführen und zu demütigen, dann werde ich sie eigenhändig erwürgen oder kurzerhand ins Wasser schmeißen. Im Übrigen hätte ich das schon längst machen sollen!«, schimpfte Gerd.
Anscheinend nahm man die Angelegenheit in gewisser Weise ernst, denn die Geschwindigkeit wurde spürbar gedrosselt, ein Krisenstab der leitenden Crew trat zusammen, während das abkömmliche Personal in allen Tenderbooten, Boutiquen, Teaktruhen, unter Esstischen, hinter gestapelten Liegestühlen, in Fitnessräumen, Auditorien, in der Bar und sogar im Maschinenraum suchte. Es dauerte eine halbe Stunde, bis man Ortrud fand.
Da die Kreuzfahrt nicht in den Schulferien stattfand, waren keine Kinder an Bord. Es gab jedoch ein Spielzimmer, das man versehentlich nicht abgeschlossen hatte. Für jedes Alter standen dort Bücher zur Verfügung, natürlich auch Ritterburgen, Wikinger- oder Seeräuberschiffe, Puzzles, Legosteine, Puppen nebst Zubehör und ein weiches Matratzenlager mit kleinen und großen Kuscheltieren. Genau dort, unter einem riesigen Teddybären, lag Ortrud und schlief, neben ihr – in einer Pfanne aus der Puppenküche – ein Berg Kippen und eine leere Flasche Gin; Gerd schämte sich in Grund und Boden. Seine Frau war nach einigen mehr oder weniger groben Klapsen durchaus ansprechbar, wurde jedoch vorsichtshalber zum Schiffsarzt ins Hospital gebracht.
»Am liebsten würde ich auf der Stelle nach Hause fliegen«, sagte Gerd. Als er aber Ellens unglückliches Gesicht sah, schlug er vor, erst einmal zu frühstücken. Ortrud solle ihren Rausch ausschlafen, er habe keine Lust, sich jetzt um sie zu kümmern.
»Wie hat sie denn ihre Eskapade erklärt?«, fragte Ellen.
»Angeblich hatte sie nachts Wadenkrämpfe, wollte mich nicht wecken und sich an Deck die Beine vertreten. Dabei habe sie ihre Bordkarte verloren, und ich hätte nach ihrer Rückkehr das Klopfen an der Tür nicht gehört. Ich bin also schuld, dass sie nicht wieder in die Kabine konnte! Aber ich bitte dich, um sich die Beine zu vertreten, braucht man doch keine Schnapsflasche mitzunehmen! Außerdem muss sie sich den Gin vorsätzlich in Granada besorgt haben.«
Insgeheim war Ellen sehr froh, dass Ortrud auch heute kampfunfähig war. Inzwischen war auch die ahnungslose Amalia am Frühstückstisch erschienen und erzählte, dass sie mit drei der A-cappella-Sänger nach Murcia fahren wolle: »Sie haben im Taxi noch einen freien Platz, weil die anderen zwei proben müssen. Sind zwar nicht gerade in meinem Alter, aber immer noch weit unterm Durchschnitt. Und ein Sprachproblem gibt’s diesmal auch nicht.«
Die Sänger mochten so um die vierzig sein, für Amalia wahrscheinlich Greise, dachte Ellen. Aber sie freute sich für ihr Kind und natürlich im eigenen Interesse, weil sie, genau wie gestern, mit Gerd allein herumstreifen konnte.
Und genau wie gestern hatte sich Gerd akribisch vorbereitet und konnte ausgiebig über die Geschichte Cartagenas referieren – von der Gründung durch die Punier bis zum heutigen Tag. Ellen hörte aufmerksam zu, obwohl es ihr im Grunde völlig egal war, dass Sir Francis Drake die Stadt 1588 plündern ließ. Sie musste sogar ein wenig lächeln, weil Gerd ganz im Gegensatz zu ihr ein Zahlenmensch war.
Nur wenig später brachen sie auf. Am Hafen war eines der ersten U-Boote ausgestellt, dessen Erfinder aus Cartagena stammte, kurz darauf erreichten sie die breite Calle mayor, die mit edlen Steinen gepflastert war. Ellen wäre am liebsten Hand in Hand mit ihrem Begleiter herumgeschlendert, aber er schien begreiflicherweise nicht in Stimmung zu sein. Viele Touristen und Einheimische waren jetzt am Morgen unterwegs, Schüler mit Rucksäcken, Mütter mit Kinderwagen. Sowohl schöne alte Häuser mit verglasten Balkonen als auch hässliche Neubauten wurden von Gerd fachmännisch begutachtet, aber alles in allem hielt er die Stadt für nicht besonders attraktiv und wollte bald wieder aufs Schiff zurück. Auch Ellen war es recht, denn es drohte brütend heiß zu werden.
»Deine Sommersprossen haben Junge bekommen! Wo hast du deinen neuen Strohhut gelassen?«, fragte sie.
»Sie hat ihn zum Kotzen benutzt«, sagte Gerd.
Den Nachmittag verbrachte Gerd in der Bibliothek, Ortrud im Ausnüchterungsarrest, Amalia unterwegs. Nach einem
Weitere Kostenlose Bücher