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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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wohltuenden Schläfchen hatte Ellen ihre Mutter erreicht und war beruhigt. Hildegard schien es gutzugehen, wenn sie auch aus Gewohnheit ein paar Seufzer ausstieß. Nach dieser erfreulichen Nachricht war Ellen wild entschlossen, die Reise in vollen Zügen zu genießen. Beim Kaffeetrinken am Pool lernte sie ein exzentrisches Paar kennen, das ihr schon mehrmals aufgefallen war. Er hatte straff nach hinten gegelte, fast grünliche Haare und neben seinem Liegestuhl einen Pilotenkoffer, den er oft wie zufällig berührte. Mit leicht übertriebener Höflichkeit stellte er sich als Ansgar Braun, seine Frau als Valerie Braun-Schweiger vor und bot Ellen fast im gleichen Atemzug das Du an, da der Familienname Braun doch gar zu langweilig sei. Die Frau mit dem imposanten Namen trug ein Bikinioberteil, einen Pareo um die Hüften und rosa Schleifchen in den Locken. Ohne gefragt zu werden, erzählte sie von ihren russischen Vorfahren, die Wolgatreidler waren. Auch über ihren gemeinsamen Beruf wusste sie Merkwürdiges zu berichten, denn beide behandelten depressive Haustiere, vor allem Hunde. Er hatte Veterinärmedizin studiert, sie war Psychologin. Ihrerseits erkundigten sie sich nach Ortrud, denn die große Suchaktion hatte sich herumgesprochen.
    Aus Solidarität mit Gerd verschwieg Ellen, in welchem Zustand man seine Frau entdeckt hatte. Überhaupt waren ihre Gefühle verworren und ambivalent: Zwar wünschte sie Ortrud zur Hölle und rieb sich innerlich die Hände, dass sie sich so unerhört schlecht benahm, doch gleichzeitig litt sie mit Gerd und hatte den Eindruck, dass er leider in Gedanken nur noch bei seiner schrecklichen Frau war und überhaupt keine Freude mehr an der Reise fand. Sie murmelte etwas über Ortruds nächtliche Unpässlichkeit.
    »Tut mir leid, dass es Frau Dornfeld nicht gutgeht«, sagte Valerie. »So eine sympathische und gebildete Dame! Sie hat uns und alle anderen neulich aufs Beste unterhalten.«
    Ihr Mann fuhr fort: »Eine der wenigen Frauen, die in der Bar intelligente Witze erzählen. Sie hat mich zum Beispiel gefragt, was Chuzpe ist. Na?«
    Ellen zuckte mit den Schultern. Sie hasste rhetorische Fragen.
    »Chuzpe ist, wenn jemand seine Eltern umbringt und vor Gericht auf mildernde Umstände pocht, weil er Vollwaise sei!«
    Valerie und Ansgar lachten laut, Ellen aus Höflichkeit. Doch es war immerhin auffallend, dass etwas Positives über Ortrud gesagt wurde. Sympathisch, intelligent, gebildet! Nun gut, es musste ja einen Grund gegeben haben, dass Gerd sie geheiratet hatte. Andererseits erschienen ihr die neuen Bekannten nicht ganz glaubwürdig, es konnte sein, dass auch sie gerne tief ins Glas guckten. Die zwei schrägen Tierpsychiater fielen sowieso gänzlich aus dem Rahmen – die artenreiche Fauna der Passagiere bestand zumeist aus zurückhaltenden, distinguierten Leuten, edel gekleidet, aber niemals overdressed; reich, aber nicht protzig. Man lernte sich nicht gleich zu Beginn der Reise kennen, sondern beschnupperte sich erst einmal aus gebührendem Abstand.
    Weil ihre neuen Bekannten so zutraulich und gesprächig waren, traute sich Ellen aus purer Neugier nach dem Inhalt des schwarzen Koffers zu fragen.
    Die Antwort ließ ein wenig auf sich warten, das Ehepaar tauschte Blicke. Dann meinte Ansgar: »Fällt wohl sehr auf, einen Business Trolley mit an den Pool zu nehmen! Jeder denkt gleich an gestohlene Juwelen, Schmiergeld oder Stasiakten! Genau genommen handelt es sich aber um ein Grab, denn innen befindet sich eine Urne.«
    Schließlich erfuhr Ellen, dass es sich um die Asche eines Hundes handele, den sie jahrelang therapiert hatten. Sein betagter Besitzer hätte sich für die sterblichen Überreste seines Lieblings eine Seebestattung gewünscht und auch die Koordinaten, beziehungsweise den ungefähren Ort der Beisetzung angegeben, nämlich zehn Seemeilen von Cartagena entfernt, also etwa 18 Kilometer weiter nördlich. Nur zu diesem Zweck hätten sie die Kreuzfahrt gebucht, die ihnen vom Herrchen des Verblichenen bezahlt werde. Ellen konnte jetzt ihr brachliegendes schauspielerisches Talent einsetzen und tiefes Mitgefühl heucheln, ja sie bat sogar darum, als Trauergast an der Zeremonie teilnehmen zu dürfen.
    Amalia kam strahlend und pünktlich von ihrem Ausflug zurück, anscheinend hatte sie mehr Glück mit den Sängern als mit den Tänzern. Ihre Mutter erzählte ihr vom Inhalt des Pilotenkoffers, auch Amalia amüsierte sich und ging sofort auf die Suche nach ein paar Blumen für die

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