Über Bord
schon im Vorfeld behauptet hatte, ihre Mutter vertrage keine Sauna.
Ellen steckte erfolglos den Kopf in die Bibliothek sowie in andere Gesellschaftsräume und drückte sich schließlich so lange auf allen Decks herum, bis sie Gerd aufgestöbert hatte. Inzwischen wusste sie, dass er sich lieber im Schatten aufhielt und deswegen meistens abseits der üblichen Sonnenanbeter zu finden war. Sie rückte einen zweiten Liegestuhl direkt neben seinen; Gerd ließ die Zeitung sinken.
»Was werdet ihr in Palma de Mallorca unternehmen?«, fragte sie.
»Wahrscheinlich nichts«, sagte Gerd. »Wir kennen die Stadt wie unsere Westentasche. Außerdem ist Ortrud nach ihrem Beautypensum meistens völlig erschossen und will sich hinlegen. Und ihr?«
»Weiß noch nicht«, sagte Ellen und erzählte ausführlich von ihrem misslungenen Ausflug in Begleitung der Hundepsychiater. Und Amalia wollte offenbar immer noch nicht mit ihrer Mutter in der Stadt angetroffen werden.
Gerd wollte diese Bemerkung etwas ausführlicher kommentiert haben, und Ellen erzählte von einer lange zurückliegenden Begebenheit. Amalia war etwa vierzehn, als sie mit mehreren Schulfreundinnen die Medienabteilung eines Kaufhauses aufsuchte. Kichernd fragte eines der Mädchen, ob das da hinten nicht Amalias Mutter sei. Und wirklich, Ellen hatte Kopfhörer aufgesetzt, sang das Lied einer CD selbstvergessen mit und wackelte dazu rhythmisch mit dem Hintern. Amalias Freundinnen konnten sich nicht halten vor Lachen, und Ellen bekam am Abend zu hören, dass dies der peinlichste Moment im Leben ihrer Tochter gewesen sei.
»Seitdem schämt sich Amalia für mich! Entweder bin ich zu jugendlich oder zu altmodisch, zu prüde oder zu unanständig, zu besserwisserisch oder zu ahnungslos. Inzwischen ist meine Tochter 24, aber sie wird mich wohl erst akzeptieren, wenn sie selbst Kinder hat.«
»Immerhin ist sie mit dir auf diese Reise gekommen«, sagte Gerd. »Dabei hat sie sicherlich einen Freund, den sie durch ihren Alleingang brüskiert, oder?«
»Den hat sie, klar. Was macht eigentlich eure Tochter?«
Langes Schweigen. Schließlich sagte Gerd: »Mit Franziska haben wir keinen Kontakt mehr.«
Zu Ellens Bestürzung nahm er ein Taschentuch heraus und tat so, als würde er die Lesebrille putzen. Hätte sie lieber den Mund halten sollen? Um das Thema zu wechseln, deutete sie fragend auf einen Wasservogel, der offensichtlich keine Möwe war. Gerd hielt ihn für eine Seeschwalbe, war sich aber auch nicht sicher. Plötzlich legte er die gewienerte Brille weg, griff nach Ellens Hand, mimte den Kavalier und berührte ihre Fingerspitzen ganz leicht mit den Lippen.
»Weißt du was?«, sagte er herzlich. »Für den Kunstspaziergang hätte man sich schon vor einigen Tagen anmelden müssen. Wir beide werden uns in einen Touristenbus mit offenem Verdeck setzen und uns quer durch Palma kutschieren lassen. Das ist sicherlich nicht die feinste Art des Sightseeings, aber wir tun einfach mal so, als wären wir noch jung und hätten kein Geld.«
»Letzteres trifft leider immer noch auf mich zu!«, sagte Ellen und hätte vor Glück am liebsten die ganze Welt und noch lieber Gerd umarmt, aber sie beherrschte sich. Ein herrlicher Tag lag vor ihr.
Einige Stunden später saßen Gerd und Ellen unter schattigen Orangenbäumen vor der Kathedrale von Palma und schauten auf einen plätschernden Springbrunnen.
»Die Katalanen nennen ihre Kirche La Seu «, referierte Gerd. »Der Grundstein wurde 1230 gelegt. Die Länge beträgt etwa 110 Meter, die Breite 33 Meter.«
Nun musste Ellen doch ein wenig grinsen. Genau über solche Angaben hatte Ansgar gespottet, weil sie zum einen Ohr rein-, zum anderen wieder rausgingen.
»Du bist mir ja ein echter Zahlenmensch!«, sagte sie bewundernd.
»Das muss man als Architekt auch sein! – Hätte ich doch noch meinen schönen neuen Strohhut!«, klagte er. »Wenn wir gleich im Bus sitzen, knallt uns die Sonne fast senkrecht auf die Köpfe!«
»Dann kaufen wir dir doch einen neuen Sombrero!«, schlug Ellen vor, und sie gingen in den nächsten Hutladen.
Die Tickets für den Sightseeing-Bus kosteten nur ein paar Euro; im Preis eingeschlossen war eine Belehrung in der gewünschten Sprache. Beide verzichteten auf Kopfhörer, um sich besser unterhalten zu können. Gerd flüsterte Ellen ins Ohr, er sei nun ihr ganz persönlicher Guide und rutschte etwas näher an sie heran.
»Dort im Palacio Almudaina wohnt der spanische König, wenn er auf der Insel weilt!«, begann
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