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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Fischverkäufer kreisten und sich kreischend um die größten Bissen zankten.
    Leider fielen in diesem Moment die ersten dicken Regentropfen. Ellen schlug vor, in die riesige Kathedrale zu flüchten, aber Amalia fand ein Café angenehmer. Und vor allem war es schneller zu erreichen. Sie saßen zwar draußen, aber geschützt unter einer breiten Markise.
    »Nun verrate mir mal, warum du nicht mit deinem Männerchor unterwegs bist«, sagte Ellen.
    Amalia zog eine Schnute. »Sie haben mich gestern Abend total verarscht und behauptet, sie hätten heute etwas vor, was nicht für Damenohren bestimmt sei. Ich habe natürlich gleich auf ein Hafenbordell getippt, und sie haben mich lange in diesem Glauben gelassen und schlüpfrige Bemerkungen gemacht. Ich dumme Kuh bin darauf hereingefallen und habe neugierige Fragen gestellt. Am Ende haben sie mich so was von ausgelacht, und es kam heraus, dass sie noch stundenlang proben müssen. Heute Abend singen sie nämlich auf Französisch, und das klappt noch nicht so richtig. Du weißt ja, dass ich es nicht ertragen kann, wenn man sich über mich lustig macht.«
    »Ich freue mich trotzdem auf den Chansonabend«, sagte Ellen. »Am liebsten würde ich bei den ollen Kamellen mitträllern, aber Französisch ist nicht gerade meine Stärke.«
    Zu ihrer Verblüffung fing jetzt Amalia an zu singen:
    »Ali-Baba, Ali-Baba, c’est lui le plus beau soldat de Madagascar…«
    »Ich wusste gar nicht, dass du so eine schöne Stimme hast«, sagte Ellen verblüfft. »Du könntest bei deiner Boygroup direkt mitsingen! Aber schau mal, es hat aufgehört zu regnen. Sollen wir jetzt Marseille etwas eingehender erkunden?«
    »Wenn ich an deine Füße denke«, sagte Amalia mitfühlend, »dann nehmen wir lieber den Bus zum Pier. Außerdem wolltest du doch im Urlaub jeden Mittag eine ausgiebige Siesta halten.«

20

    Mit einem erholsamen Mittagsschlaf – es war bereits vierzehn Uhr – wollte es diesmal nicht klappen. Ellen wälzte sich herum, befürchtete, dass der Mistral eine Migräne auslösen könnte, und grübelte über das Leben, die Männer und ihre Rolle auf dieser Reise. Eine Kreuzfahrt auf einem Luxusdampfer war zwar purer Genuss, aber gleichzeitig auch eine oberflächliche Art, fremde Länder kennenzulernen. An Land gehen, ein paar Stunden Sightseeing und im Sog anderer Touristen durch die Souvenirläden schlendern – das war zu wenig. Früher hatte sie zwei ihrer Geschwister – Holger und Lydia – beneidet, die zu Abenteuerurlauben aufgebrochen waren. Ganz anders geartet waren Matthias und Christa, die vor der Familiengründung karrierebewusst ihre Freizeit zum Erwerb von Fremdsprachen nutzten und später mit ihrem Tross an die holländische Nordsee oder nach Südtirol fuhren. Holger hatte dagegen als Student mit seiner Band in ausrangierten VW -Bussen die Welt erkundet, wobei sie sich mit Straßenmusik finanzierten. Und Lydia fand immer irgendeinen Typ, der sie nach Kuba, Kolumbien oder Kuwait mitnahm, denn sie sammelte Länder oder wenigstens Landstriche, die mit K begannen. Im vergangenen Jahr konnte sie Kirgisistan abhaken, für das nächste Frühjahr plante sie Korea.
    Auch Ellen war während ihrer Ehe mit Mann und Töchtern in die Ferien gefahren, aber es waren weder besonders lustige noch aufregende oder gar noble Touren gewesen, sondern von Grund auf spießige. Hier auf der MS RENA hatten alle – bis auf die Künstler – genug Geld, um sich jeglichen Überfluss leisten zu können. Es waren keineswegs nur solche Leute, die geerbt oder das große Los gewonnen hatten, vielmehr hatten die meisten ein Leben lang hart und erfolgreich gearbeitet. Sowohl unter den Erben als auch unter den Fleißigen gab es zwar ein paar Snobs, aber auch viele sympathische Passagiere, mit denen man gern zusammen war.
    Auch Gerds finanzielle Mittel waren größtenteils auf Ortruds Erbschaft zurückzuführen. Nun, sie war es ja schließlich, die unbedingt in See stechen wollte, nicht er. Überhaupt war es für Ellen ein Rätsel, wieso dieses Paar noch zusammenblieb. Beide sprachen schlecht über den anderen, hatten unterschiedliche Interessen, konnten den Partner zuweilen kaum ertragen, warfen sich gegenseitig die Probleme mit ihren Kindern vor und schienen trotzdem jedes Jahr den Urlaub gemeinsam zu verbringen. Wahrscheinlich war Gerd ein wenig entscheidungsschwach und brauchte einen deutlichen Anstoß.
    Ellen erinnerte sich, wie sehr sie die Scheidung von Adam mitgenommen hatte, wie erschöpft sie noch ein

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