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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Lächeln verriet seine Vorfreude, er sagte nur: »Selbstverständlich!«
    Schon über eine Stunde wartete Ellen im Nachthemd auf Gerds Erscheinen. Fast glaubte sie, er habe sein Versprechen vergessen, als es doch noch an die Tür klopfte. Sie machte rasch auf, nahm ihm das Verbandszeug aus der Hand und umarmte ihn. »Das war aber lieb von dir«, sagte sie, »dafür gibt es einen Kuss!«
    Leider entwickelte sich daraus keine Dynamik wie beim letzten Mal. Als Ellen vorsichtig begann, ihm das Hemd aufzuknöpfen, meinte Gerd leicht verlegen: »Nicht doch, es könnte jeden Moment jemand hereinkommen. Und ich kann mich unter solchen Umständen nicht entspannen, das musst du verstehen.«
    Sie ließ sofort von ihm ab. Als sollte er mit seiner Befürchtung recht behalten, klingelte das Telefon. Ellen wollte eigentlich nicht abnehmen, aber im Hinterkopf regte sich die Sorge um ihre Mutter. Schlimmstenfalls konnte es ein Sanitäter sein, der Hildegard bewusstlos aufgefunden hatte. Es war jedoch Ortrud.
    »Entschuldige die Störung. Hast du vielleicht Gerd gesehen? Ich habe leider diese blöde Karte nicht bei mir, ohne die ich nicht in die Kabine kann.«
    »Hier ist er nicht«, sagte Ellen und legte den Finger an den Mund. Ortrud bedankte und verabschiedete sich.
    »Siehst du«, sagte Gerd. »Ich hab’s doch geahnt! Sie sucht mich! Vielleicht hat sie bereits Verdacht geschöpft!«
    Na und?, dachte Ellen, soll sie doch! Aber er gab ihr nur einen hastigen Kuss auf die Wange und machte sich davon. Eine Weile wartete sie, ob er vielleicht wiederkam, doch es sah nicht danach aus. Es war noch nicht besonders spät, sollte sie sich wieder anziehen und ihre Kabine verlassen? Männern soll man niemals nachlaufen, hatte ihre Mutter ihr eingeschärft. Am Ende hatte sie ihm ihre leidenschaftliche Zuneigung schon allzu deutlich offenbart. Lieber wollte sie Zurückhaltung üben. Morgen gehe ich ganz allein an Land, beschloss sie.
    Kurz nach zehn wurde die Tür aufgerissen, Amalia polterte herein.
    »Ich muss heute mal früh ins Bett«, sagte sie ein wenig verdrossen. »In der Bar kann man die Hand vor den Augen nicht mehr sehen, am Ende werde ich noch krank von all dem Qualm! Mama, hast du Lust, morgen mit mir auf Entdeckungsreise zu gehen? Ich glaube, ich sollte mich mal um dich kümmern.«
    »Gern, mein Schatz«, sagte Ellen und war etwas getröstet. »Vielleicht finden wir auch ein paar Mitbringsel.«
    Das Wummern der Motoren hatte aufgehört, man war schon früh am Ziel. Es war zwar Sonntag, doch trotzdem konnte man am modernen Marseiller Hafen beobachten, wie ein Containerschiff in großer Geschwindigkeit gelöscht und neu geladen wurde, denn die Liegezeiten waren teuer. Inzwischen wusste Ellen, dass sich Gerd gemeinsam mit seiner Frau und einer kunstinteressierten Kleingruppe für eine Tour nach Arles entschieden hatte. Doch sie musste ja beim heutigen Landgang auch nicht allein losziehen.
    Ein plötzlich einsetzender, kühler Mistral wirbelte Plastikfetzen durch die Luft, Ellen und Amalia wurden beim Aussteigen fast über die Gangway geblasen. Nach einer ziemlich langen Fahrt mit dem Shuttlebus stiegen sie beim alten Marseiller Hafen aus.
    »Die Geschäfte sind natürlich alle geschlossen«, sagte Amalia etwas enttäuscht, tröstete sich aber mit dem kleinen Flohmarkt am Hafenbecken. Ellen kaufte für ihre Mutter eine beschichtete, mit Olivenzweigen bedruckte Gartentischdecke und für Brigitte, deren Kleider sie trug, eine hübsche Packung mit Lavendelseife. Clärchen sollte ein nach Orangenblüten duftendes Eau de Toilette bekommen.
    »Nun fehlt nur noch was für Uwe«, erklärte Amalia und hielt ein T-Shirt mit der Felsen- und Gefängnisinsel, wo der berühmte Graf von Monte Christo eingesperrt war, prüfend in die Höhe.
    »Eine Romanfigur«, belehrte Ellen ihre Tochter. »Der Graf ist die Erfindung von Alexandre Dumas. Vielleicht nicht ganz das richtige für einen Analphabeten.«
    »Im Gegensatz zu mir hat Uwe das Abitur gemacht. Wir schauen mal bei den anderen Ständen«, sagte Amalia, ohne auf die spitze Bemerkung ihrer Mutter einzugehen. »Da gibt es Schiffszubehör, nautische Geräte, Taucherhelme…«
    Sie entschieden sich schließlich für eine schwere Schiffsglocke aus Messing, wohl eher ein Dekorationsstück als aus einer echten Galeere.
    Plötzlich rief Amalia begeistert: »Das sieht ja aus wie in einem Hitchcock-Film!« Fasziniert blieb sie stehen und schaute zu, wie Hunderte von Möwen um die Abfälle der

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