Über Bord
nichts als Kleider und Kosmetik. Amalia hat mir geholfen. Wir haben alles bis hin zum Safe kontrolliert.«
»Herzlichen Dank für eure Mühe. Es tut mir so leid, dass ich euch verlassen musste. Ich hoffe, das Unglück hat nicht alle zu sehr mitgenommen?«
»Du fehlst mir schon sehr. – Aber wie hat denn deine Tochter reagiert?«
»Ich habe sie noch gar nicht angetroffen, sie scheint ausgeflogen zu sein. Aber das erzähle ich dir später, ich bin jetzt mit ihrer Freundin verabredet und hoffe, dass die Bescheid weiß. Alles Liebe, und grüß mir deine Tochter!«
Er legte auf. Ellen beschloss, sich nun endlich ihr Entspannungsbad zu gönnen. Vom heißen Wasser umspült, kam ihr ein altes Lied in den Sinn. Wir sind zwar keine Königskinder, sondern etwas noch viel Merkwürdigeres, dachte sie – wir wurden beide einem falschen Vater untergejubelt. Also änderte sie den Text etwas ab und sang:
Es waren zwei Kuckuckskinder,
die hatten einander so lieb,
sie konnten zusammen nicht kommen,
das Wasser war viel zu tief.
Beim festlichen Abendessen wollten Amalia und Ellen gerade an ihrem halbleeren Vierertisch Platz nehmen, als Ansgar sie mit freundlichen Worten an eine etwas größere Tafel holte, wo Valerie, der Glitzermann und die Außerirdische – die angeblich reichste Frau an Bord – sowie das Kind Dicky mit seinem bajuwarischen Vater bereits saßen. Man stellte sich gegenseitig vor, denn Ellen kannte die meisten nur unter den von Amalia ausgedachten Tarnnamen. Nach einigen belanglosen Sätzen über das Wetter und die Speisekarte kam man auf Ortruds tragisches Schicksal zu sprechen, über das anscheinend alle an diesem Tisch bestens informiert waren.
»Falls es sich tatsächlich um einen Suizid handelt«, meinte Valerie, »müsste man untersuchen, ob psychosomatische oder hereditäre Faktoren eine Rolle spielen. Ich werde übrigens heute keinen Fisch essen.«
Die Außerirdische konterte sofort: »Totaler Quatsch, Kindchen, ist doch klar, dass es kein Selbstmord war! Der Ehemann hatte allen Grund, sie loszuwerden. Als Kriminalist würde ich bloß in dieser Richtung recherchieren und auf jeden Fall ein paar geschulte Taucher einsetzen.«
»Etwa im ganzen Mittelmeer? Ich habe gehört, dass man die Suche nach der Leiche erfolglos eingestellt hat«, sagte der Bajuware.
Doch der Glitzermann empörte sich: »Finden Sie wirklich, dass Leichen ein passendes Tischgespräch in Gegenwart eines Kindes sind? Wir sollten lieber ein anderes Thema aufgreifen – zum Beispiel wird unsere Frau Tunkel zu Hause eine Überraschung erleben: Die Familie hat sich in ihrer Abwesenheit um einen Welpen vergrößert.«
Jetzt fand Amalia, dass es Zeit war, sich einzuschalten. »Meine Großmutter hat ein verwaistes Hundekind aufgenommen, das hätte doch jeder an ihrer Stelle getan. Leider ist meine Mutter ein bisschen neurotisch im Umgang mit Tieren, aber ich denke, sie wird sich an den Zuwachs gewöhnen.«
»Welche Rasse? Wie alt?«, fragte Ansgar. »Bei einem ausgesetzten Jungtier ist natürlich die Frage, ob ein allzu früher Mutterverlust nicht zu einem schweren Trauma geführt hat. In diesem Fall bieten wir Hilfe an – ihr könnt uns jederzeit anrufen, falls es Probleme gibt.«
Ellen hörte gar nicht zu. Anscheinend wussten bereits alle auf dem Schiff, dass Ortrud ein Alkoholproblem und Gerd dadurch kein leichtes Leben gehabt hatte; die Außerirdische hatte nur ausgesprochen, was wohl viele hier dachten. Himmel hilf, womöglich habe ich ihm eine Mordanklage eingebrockt, dachte Ellen. Aber ich darf auf keinen Fall paranoid reagieren, schließlich hat Gerd ein astreines Alibi.
Bei der nachfolgenden Abschiedsgala tranken sämtliche Gäste Champagner und hörten den Sängern zu, die Seemannslieder vortrugen. Zuvor hatte die Versteigerung gespendeter Gegenstände zu Gunsten einer Kinderkrebsklinik stattgefunden, wobei die reiche alte Frau ein paar Tausender springen ließ. Schließlich trat der Kreuzfahrtdirektor auf, der einige Gedichte von Ringelnatz rezitierte, jenem Dichter, dessen seemännischer Name für das glücksbringende Seepferdchen stand.
In einer Pause, als neue Getränke serviert wurden, wandte sich die außerirdische Witwe an Amalia.
»Gefällt dir diese Reise, Schätzchen?«, fragte sie. Amalia nickte.
»Und wer hat sie bezahlt?«
»Wir wurden eingeladen.«
»Das dachte ich mir. Würdest du nicht gern so leben wie ich? Dir jedes Jahr mehrere solcher Reisen leisten? Und zwar alles vom eigenen
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