Über Bord
Kindern die Bilder zeigt, wird mindestens die Tochter merken, dass diese Kleidungsstücke fehlen. Und dann muss man nur zwei und zwei zusammenzählen…«
»Mama, du bist schlau, an dir ist direkt ein Profi verlorengegangen. Aber schade ist es doch, denn wahrscheinlich wandern die teuren Sachen in einen Container. Oder meinst du, es besteht eine Chance, dass Madame noch lebt?«
Ellen schüttelte den Kopf, während sie mit Bedauern aus dem angenehm leichten Pullover schlüpfte. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Ortrud ihn je getragen hatte, er schien ganz neu zu sein. Also zog sie ihn doch wieder an. In Gedanken war sie jedoch bei ihrem Fundstück, das sich womöglich als Fundgrube entpuppen könnte. Leider hatten sie beide keinen Laptop mitgenommen.
»Weißt du was«, platzte Amalia heraus, »diese Kabine bleibt ja jetzt frei. Wir könnten doch den Concierge fragen, ob wir nicht für die letzten Tage umziehen dürfen. Der Balkon ist etwas einmalig Schönes, ich könnte mich sogar nackig in die Sonne legen! Außerdem liebe ich es, einfach nur ins Wasser zu schauen. Und die prächtigen Sonnenuntergänge!«
»Auf keinen Fall«, sagte Ellen entsetzt. »Ich bin froh, wenn ich diese Kabine nie wieder betreten muss!«
Amalia zuckte mit den Schultern. »Okay, okay, dann eben nicht. Du bist so was von empfindlich! In meinem Beruf könnte man sich das nicht leisten. Aber schau mal, Korsika ist in Sicht! Mama, kannst du mir einen Hunderter leihen, ich bin restlos blank.«
24
Die MS RENA lag vor Calvi auf Reede. Schon vom Wasser aus blickten Ellen und Amalia auf die genuesische Zitadelle, das Wahrzeichen des Städtchens. Sie hatten sich dazu entschlossen, nicht wie viele andere an einer Busfahrt in die korsischen Bergdörfer teilzunehmen, sondern die Altstadt zu erkunden, auch die Hafenpromenade mit vielen Restaurants und kleinen Läden sollte verlockend sein. Nachdem sie einen Souvenirshop nach dem anderen besucht hatten, kaufte Amalia vom geliehenen Geld ein Wildschwein aus Plüsch für Uwe. Er lese ja außer Gebrauchsanweisungen nur Comics: Asterix auf Korsika, worin solche Schweine eine wichtige Rolle spielten , sei sein Favorit. Ellen lächelte ein wenig von oben herab, sie konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen, Gerd ein Kuscheltier zu schenken. Liebe verändert sich im Laufe des Lebens, dachte sie, erwachsene Menschen werden selbst bei großer Verliebtheit nicht wieder zu Kindern, eher schon zu Mördern.
»Mama, gefällt dir das Wildschwein?«, fragte Amalia mit der Stimme einer Dreijährigen.
»Süß, ganz süß«, lispelte Ellen.
»Zuhause haben wir auch bald ein süßes kleines Hündchen«, tastete Amalia sich vor. Doch es kam, wie es kommen musste: Ihre Mutter bekam einen Wutanfall, packte das unschuldige Wildschwein, warf es in den nächstbesten Papierkorb und schrie ihre Tochter so zornig an, dass ein paar Passagiere des Schiffes, die hier ebenfalls flanierten, neugierig stehen blieben.
Amalia wusste vor Schreck nichts zu erwidern, fischte das Schwein wieder heraus, drehte sich auf dem Absatz um und ließ ihre Mutter stehen. Ein Mitreisender, von Amalia der Glitzermann genannt, eilte auf Ellen zu und fragte, ob er helfen könne. Sie brüllte auch ihn an, denn auf einmal versagten ihre Nerven. Nun betrat auch ein mitleidiger Ladenbesitzer die Bühne und brachte ihr ein Glas Wasser, worauf Ellen die Tränen kamen. Man führte sie an einen kleinen Platz, schob ihr einen Stuhl unter und zwang sie, das Wasser auszutrinken. Kaum ließ man sie einen Moment allein, sprang Ellen auf und verdrückte sich. Tränenüberströmt wanderte sie am Ufer entlang, bis sie ein niedriges Mäuerchen im Schatten von Meerespinien, Lorbeerbäumen und Eukalyptuspflanzen erreichte. Hier sah man weit und breit keine Menschenseele, nur ein Schmetterling flog herbei und setzte sich neben sie; Ellen war sich fast sicher, dass es ein von Gerd geschickter Schwalbenschwanz war. Oder wurde sie jetzt ebenso kindisch wie ihre Tochter, die ein Plüschtier gekauft hatte? Etwas mutlos zog sie ihr Handy heraus und steckte es gleich wieder weg. Leider hatte sie seine Nummer nicht eingespeichert. Allmählich musste Gerd ja am Ziel angekommen sein, wann würde er sich melden?
Wie sollte es weitergehen? Nächste Woche saß sie wieder Tag für Tag auf ihrem hässlichen ergonomischen Drehstuhl im Einwohnermeldeamt und stellte Personalausweise oder Reisepässe aus. Zu Hause tobte unterdessen ein junger Hund herum, der auf den Teppich
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