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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Ellen. »Ach, eh ich’s vergesse – hier, meine Bordkarte, damit du in meine Kabine kommst. Ich melde mich bald!«
    Ein Filipino trug seine beiden Koffer, das Tenderboot wartete bereits. Ellen winkte nur kurz, da sich viele Passagiere auf den Decks versammelt hatten, um die baldige Abfahrt des Schiffes zu verfolgen. Gerd stieg ein und drehte sich noch einmal um, dann tuckerten sie davon. In der gegenüberliegenden Stadt gingen die Lichter an, die Dämmerung begann.
    Auf dem Weg in die Kabine traf Ellen ihre Tochter.
    »Mama, wo hast du gesteckt? War das eben dein Gerd, der das sinkende Schiff verlassen hat?«
    »Es ist nicht mein Gerd«, sagte Ellen scharf. »Hast du schon gegessen?«
    »Hier verhungert keiner, diesmal habe ich mit Frau Stör und Herrn Karpfen einen Platz im Spezialitätenrestaurant ergattert! Willst du etwa schon ins Bett gehen?«
    »Mir ist nicht gut, ich möchte mich hinlegen. Vergangene Nacht ging es mir hundsmiserabel, zum ersten Mal im Leben wurde ich seekrank.«
    »Dann ruh dich gut aus. Ich schaue mir noch einen Film an und werde später auf Zehenspitzen hereinschleichen und dich nicht stören.«
    »Morgen muss ich für eine Tote packen«, sagte Ellen. »Drum brauche ich jetzt erst einmal Schlaf.«
    Endlich lag Ellen im Bett und bediente sich großzügig mit Baldriandragees. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen war tröstlich: Beihilfe zum Selbstmord war unter Umständen sogar straffrei. Mitten in der Nacht wurde sie wieder wach, ihre Tochter lag längst neben ihr. Zum zweiten Mal auf dieser Reise fühlte sie sich schlecht, sie tappte ins Bad und trennte sich von ihrem allzu reichlichen Abendmahl. Ansgar hat recht, dachte sie, wenn man die Wahl hat, kotzt man lieber ins Klo als über Bord.
    Nach einem gemeinsamen Kaffee bot sich Amalia an, ihrer Mutter beim Kofferpacken zu helfen. Sicherlich war auch eine gewisse Neugier dabei, Ortruds persönlichen Nachlass zu inspizieren. Zu zweit betraten sie die Kabine der Dornfelds; Amalia strebte zuerst ins Bad, um die Kosmetika zu sichten und in einem überdimensionalen Kulturbeutel zu verstauen.
    »Eigentlich könnte man glatt alles in den Mülleimer werfen«, sagte sie, »wer möchte denn die angebrochenen Cremes oder Shampoos eines Schluckspechts benutzen…«
    »Du vielleicht«, knurrte Ellen. »Lass bloß die Finger davon! Aber kann ich auch mal sehen…«
    Sie einigten sich darauf, eine sicherlich sehr teure Hautcreme in Originalverpackung mitgehen zu lassen. Während Amalia noch überlegte, ob das Parfüm in der Sprayflasche ebenfalls in Frage käme, begann Ellen im begehbaren Kleiderschrank die Wäsche aus den Fächern zu räumen und aufs Bett zu legen. Der eingebaute Safe stand offen und schien leer zu sein. Prüfend griff sie trotzdem hinein und strich über einen kaum fühlbaren Widerstand unter der Filzeinlage. Verwundert zog sie ein kleines Objekt hervor, das sie, ohne zu überlegen, in der Hosentasche verschwinden ließ. Als sie wenige Sekunden später auf den Balkon trat und das Ding bei Licht betrachtete, war es ein USB -Stick, einer dieser niedlichen mobilen Datenspeicher. Versteckte Ortrud im Computer die ganz geheimen Notizen? Davon brauchte Amalia eigentlich nichts zu wissen, beschloss Ellen und steckte das Ding schnell wieder weg. Als es jetzt um die Kleider ging, war ihre Tochter sofort an ihrer Seite.
    »Schau doch mal, ob mir das gelbe stehen würde?«, fragte Amalia und hielt ein besticktes Flattergewand in die Höhe. Eine Modenschau war angesagt. Sie zogen fast alles an, was Ortrud auf die Schiffsreise mitgenommen hatte. Beide alberten herum, giggelten und gerieten in eine überdrehte Stimmung, wie es seit Amalias Teenagerzeit nie mehr der Fall gewesen war.
    »Schmuck ist leider keiner mehr da«, sagte Amalia vorwurfsvoll. »Noch nicht einmal das Collier, das Ortrud mir schenken wollte. Das hat Gerd natürlich alles eingesackt, anstatt es uns zu überlassen.«
    »Klar, den Safe räumt jeder als Erstes aus, weil man die Ausweise auf keinen Fall vergessen darf«, sagte Ellen und wurde wieder ernst. »Wir haben ja auch unser Bargeld, die Flugtickets und die Kreditkarten eingeschlossen. – Aber findest du, dass der blaue Kaschmirpullover zu mir passen würde?«
    Amalia hob den Daumen nach oben, und Ellen behielt das gute Stück einfach an. Amalia entschied sich für eine kurze rote Lederjacke, die ihr ausgezeichnet stand.
    »Stopp!«, sagte Ellen plötzlich. »Gerd hat schließlich dauernd fotografiert. Wenn er seinen

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