Über Boxen
moralischen Integrität, sich der rigorosen Härte des Boxsports zu unterwerfen, um einen solchen Instinkt auszuleben? Er könnte es sich leichter machen: Die Zeitungen berichten täglich darüber. Dass der Boxer ebenso wie die Menge, die er vertritt, mit Erregung auf den Anblick von Blut reagiert – «first blood» : ein Ausdruck, der noch aus den Tagen des englischen Prize Ring stammt –, ist selbstverständlich. Aber es gibt Boxfans, und sie sind gar nicht so selten, die energisch verlangen, dass ein Kampf auf seinem Höhepunkt abgebrochen werden soll. Auf mich wirkt die Zuschauermenge in einer großen Arena wie dem Madison Square Garden wie eine riesige Welle, innerhalb derer es Gegenwellen, Gegenströmungen gibt, einzelne, aber kühne Stimmen, die der stärkeren Bewegung hin zu ekstatischer Gewalt Widerstand leisten. Diese Dissidenten üben harsche Kritik an Schiedsrichtern, die nicht einschreiten, wenn ein Kampf sich zu lange hinzieht.
(Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, versuchte mein Vater einmal, den Abbruch eines Kampfes zu erreichen: «Schluss! Es ist vorbei! Was bringt das noch!» War es Marciano, der seinen Gegner zusammenschlug, oder Carmen Basilio? Kid Gavilan? Es ist lange her, heute sehen wir blutige Kämpfe dieser Art im Fernsehen, sie bekommen dadurch etwas Steriles. Am Bildschirm kann man sich die Wirkung, die Schläge auf den Kopf und den Körper eines Mannes haben, kaum vorstellen – alles spielt sich dort in einer seltsam verflachten Zweidimensionalität ab …)
Nichtsdestoweniger ist aber der Boxer populär, der die aufsteigenden Aggressionen der Menge in sich bündelt und zum Ausdruck bringt. Nicht an die verantwortungsvollen Boxkämpfe erinnert man sich am lebhaftesten, sondern an die turbulenten Schlachten: Dempsey gegen Firpo, der zweite Kampf Louis’ gegen Schmeling, Zale gegen Graziano, Robinson gegen LaMotta, Pep gegen Saddler, Marciano gegen Charles, Ali gegen Frazier, in neuester Zeit Hagler gegen Hearns. Sonny Liston beansprucht in dieser Liste einen Platz für sich; die schiere Grausamkeit seiner Boxerpersönlichkeit, die tödlich ernste Bedrohung, die er für die schwarze wie für die weiße Welt darstellte, kennt nicht ihresgleichen. (Liston wurde neunzehnmal verhaftet und saß zweimal im Gefängnis, das zweite Mal wegen bewaffneten Überfalls.) Möglicherweise sah sich auch der ehemalige Champion Larry Holmes in dieser Rolle als schwarzer Mann des schwarzen Mannes, den seine schiere Bitterkeit dazu ermächtigte, Schmerz zuzufügen, wem Schmerz gebührte. Und, zumindest zeitweise, kann man den Rastafari Livingstone Bramble dazuzählen: Seine Blutrache an Ray Mancini schien einer grundlosen Böswilligkeit zu entspringen.
Der einzige geständige Mörder unter den bekannten Boxern war anscheinend der Weltergewichtschampion Don Jordan (1958 bis 1960), der von sich behauptete, als Junge in seiner Heimat, der Dominikanischen Republik, ein gedungener Mörder gewesen zu sein. «Was ist schon dabei, wenn man einen Menschen tötet?», sagte Jordan in einem Interview. «Das erste Mal kotzt man, fühlt sich hundeelend … Das zweite Mal spürt man gar nichts mehr.» Jordans Aussage zufolge hat er in der Dominikanischen Republik mehr als dreißig Menschen selbst getötet oder Beihilfe zum Mord geleistet, und das, ohne dass ihn jemals jemand erwischt hätte. (Es scheint, dass er von der Regierung gedungen war.) Nachdem Jordan mit seiner Familie nach Kalifornien gezogen war, tötete er einen Mann «aus persönlichen Gründen», weshalb er, vierzehnjährig, in eine Besserungsanstalt gesteckt wurde: «Ich verbrannte den Mann wie ein Tier … ich band ihn an einen Pflock, fesselte ihm Hände und Arme mit Draht, schichtete Papier auf und verbrannte ihn wie ein Tier. Man sagte mir, ich sei psychisch krank.» In der Besserungsanstalt lernte Jordan boxen. Er kämpfte im Golden Gloves Tournament und gewann alle Kämpfe. Danach versuchte er, für die Olympiade aufgestellt zu werden, schnitt aber weniger gut ab. Während der Zeit der Cosa Nostra wurde er professioneller Boxer. Er stieg auf wie ein Meteor, aber seine Karriere fand ein rasches Ende. 34
In seiner Autobiografie «Raging Bull» erklärt Jake LaMotta seinen Erfolg als Boxer – er war kurze Zeit, von 1949 bis1951 , Mittelgewichtschampion, aber viele Jahre ein populärer Boxer – mit dem Umstand, dass er sich nicht darum kümmerte, ob er im Ring getötet würde. Elf Jahre lang dachte er irrtümlicherweise, er hätte bei
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