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Über Boxen

Über Boxen

Titel: Über Boxen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Carol Oates
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einem Raubüberfall einen Mann umgebracht. Aus dieser uneingestandenen Schuld heraus suchte er Strafe und setzte sich im Kampf mit genau der gleichen Tollkühnheit Verletzungen aus, wie er selbst Verletzungen zufügte. Seine Herkunft ähnelt der Rocky Grazianos – sie kannten sich aus der Besserungsanstalt und waren als Jungen dort miteinander befreundet gewesen –, aber seine Verzweiflung war tiefer als die Grazianos, dessen Autobiografie den höchst optimistischen Titel trägt «Somebody Up There Likes Me» («Jemand da oben mag mich»). LaMotta sagte in einem Interview: «Ich hätte gegen jeden gekämpft. Es war mir egal, wer es war. Ich wollte sogar gegen Joe Louis kämpfen. Es war mir einfach egal … Deshalb habe ich gewonnen. Ich war so aggressiv, wie meine Gegner es noch nie erlebt hatten. Wenn ich getroffen wurde, war mir das auch egal.» Als LaMotta nach einiger Zeit erfuhr, dass er niemanden getötet hatte, ließ sein Fanatismus nach, und seine Karriere endete in einem abrupten Abstieg. Durch seine Lebenserinnerungen und den Film «Wie ein wilder Stier», der zum Teil nach ihnen gedreht wurde, ist LaMotta in die Boxgeschichte eingegangen: Er ist der aufsehenerregende Kämpfer aus der Gosse, dessen Integrität so groß ist, dass er sich (in einer Zeit, in der Absprachen schon fast zur Routine gehören) nur ein einziges Mal nach vorheriger Absprache besiegen lässt. Und das mit so viel ironischer Verachtung, dass ihm die Boxing Commission seine Lizenz entzieht.
    Boxen hat seit jeher den Ruf, das Leben von Jugendlichen zu verändern, die im Getto geboren wurden oder sonst in Armut lebten. Es wird wohl kaum je möglich sein, genau zu sagen, wie viele der Boxer tatsächlich aus solchen Verhältnissen stammen, aber man liegt mit einer Schätzung von neunundneunzig Prozent sicherlich nicht falsch – selbst nicht für unsere Zeit.
    (Muhammad Ali scheint eine Ausnahme gewesen zu sein, er kam nicht aus tiefster Armut – was vielleicht das grenzenlose Vertrauen des jungen Ali in sich selbst erklärt.) Während man in einigen Jugendzentren Detroits vor vielen Jahren Tennisunterricht anbot, wurde in den Gegenden, aus denen Joe Louis und Ray Robinson stammten, natürlich Boxen angeboten. Warum hätten arme schwarze Jugendliche Tennis lernen sollen? LaMotta, Graziano, Patterson, Liston, Hector Camacho, Mike Tyson – sie alle lernten erst im Gefängnis boxen. (Liston, ein routinierterer Krimineller als die anderen, begann mit dem Boxunterricht, während er seine zweite Haftstrafe wegen bewaffneten Raubüberfalls im Staatsgefängnis von Missouri absaß.) Boxen ist das moralische Äquivalent für den Krieg, von dem William James in ganz anderem Zusammenhang gesprochen hat, 35 und es hat den Vorteil – wie amerikanisch! –, dass sehr viele Leute, nämlich die, die Boxer vermarkten, eine Menge Geld verdienen; es sind nicht alles Weiße.
    Eines der Standardargumente gegen ein Verbot des Boxsports ist demzufolge auch, dass er benachteiligten Jugendlichen, hauptsächlich Schwarzen und Hispaniern, die Möglichkeit biete, Aggressionen abzureagieren, dass sie ihren Lebensunterhalt damit verdienen könnten, gegeneinander zu kämpfen, statt die Gesellschaft anzugreifen.
    Der umstrittene Ausdruck «Killerinstinkt» wurde für Jack Dempsey geprägt, als er sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere befand: als er in seinen berühmten frühen Kämpfen Jess Willard, Georges Carpentier, Luis Firpo («The Wild Bull of the Pampas») und andere, weniger bekannte Boxer mit wilder Entschlossenheit und für immer besiegte. Gab es jemals einen Boxer, der dem jungen Dempsey gleichkam? Dieser Verkörperung von Hunger, Wut und dem Willen, andere zu verletzen; dieser Verkörperung des Pioniergeists, der in den Osten zurückkehrt, um ein Vermögen zu machen. Dempsey, eine abschreckende, albtraumartige Persönlichkeit, wird inzwischen Schritt für Schritt zu einem amerikanischen Mythos hochstilisiert. Aus dem Killer im Ring wird ein New Yorker Gastronom, ein erfolgreicher Geschäftsmann, «ein äußerst liebenswerter Mann».
    Dempsey war das neunte von elf Kindern einer verarmten mormonischen Familie von Wanderarbeitern in Colorado; er lief bald von zu Hause fort, lungerte in den Camps der Bergarbeiter und den kleinen Städten des Westens herum und fing für Geld zu boxen an, als er noch fast ein Kind war. Von Dempsey erzählte man mit einer Art von Ehrfurcht, dass sogar seine Sparringspartner Gefahr liefen, ernsthaft verletzt zu

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