Über Boxen
nichts gespielt. Boxen ist kein Sport für jemanden, der kein Blut sehen kann, aber das Blut selbst wird sehr schnell unwichtig. Der erfahrene Zuschauer weiß, dass das blutende Gesicht eines Boxers vermutlich dessen geringste Sorge ist, tatsächlich kann es bedeutungslos sein – man denke nur an Rocky Marcianos stark blutendes, aber immer triumphierendes Gesicht, an Marvin Haglers blutüberströmte Stirn, als er Thomas Hearns besiegte. Der ernstlich blutende Boxer und seine Sekundanten machen sich keine Sorgen um Platzwunden, sondern darum, dass der Kampf womöglich abgebrochen wird, was einen technischen Knock-out bedeuten würde, das heißt einen Sieg des Gegners. Man erinnere sich an Ray «Boom Boom» Mancini in seinem zweiten Kampf gegen Livingstone Bramble, in welchem er verzweifelt versuchte, mit seinen Handschuhen das Blut wegzuwischen, das ihm aus zentimeterlangen Rissen in die Augen lief: Siebenundzwanzig Stiche brauchte es nach dem Kampf, um diese Risse zu vernähen. (Bramble, pragmatisch wie alle Boxer, zielte natürlich, sooft er irgend konnte, auf Mancinis verletzte Augen. Von den sechshundertvierundsiebzig Schlägen, die Bramble austeilte, trafen zweihundertfünfundfünfzig Mancini im Gesicht.)
Und wie der Boxer darauf trainiert ist, so lange zu kämpfen, bis er nicht mehr kann, so ist er auch darauf trainiert – oder von Natur aus dazu fähig –, weiterzukämpfen und auf den Füßen zu bleiben, wenn er das Bewusstsein verloren hat. Das Bild des unglücklichen südkoreanischen Leichtgewichtlers Duk Koo Kim hat sich unauslöschlich meinem Gedächtnis eingeprägt: wie er auf die Füße zu kommen versuchte, nachdem ein Treffer von Mancini eine Ader in seinem Gehirn zum Platzen gebracht hatte – als ob sein Körper sogar an der Schwelle zum Tod einen eigenen, dämonischen Willen besäße. Von Joe Louis wird behauptet, dass er, nachdem er in seinem ersten Kampf gegen Max Schmeling übel niedergeschlagen worden war, einige Runden lang kämpfte, ohne bei vollem Bewusstsein zu sein – sein bestens konditionierter Körper führte die eintrainierten Bewegungen aus wie ein aufgezogenes Uhrwerk. (Gerade während dieses Kampfes, den er verlor, zeigten sich Louis’ erstaunliches Durchhaltevermögen und sein großes Talent.) Man ist an diese Art «furchtlosen» Boxens so gewöhnt, dass das Verhalten des Schwergewichtlers Jesse Ferguson in dem Kampf gegen Mike Tyson im März 1986 – er kam aus dem Clinch nicht mehr heraus, hielt sich an Tysons Handschuhen fest, weigerte sich im Grunde zu kämpfen – unnatürlich anmutete, während es eigentlich äußerst normal war, jeder vernünftige Mensch würde sich in einer derart aussichtslosen Lage so verhalten. Aber Boxen ist widernatürlich.
Eines der Paradoxe des Boxens ist der Umstand, dass die Bewusstseinswelt des Zuschauers von der des Boxers so verschieden ist, dass es schon eine Gegenwelt zu sein scheint. «Freier» Wille, «geistige Gesundheit», «Rationalität» – alles, was charakteristisch ist für unser Bewusstsein – ist irrelevant, wenn nicht sogar das genaue Gegenteil von dem, was Boxen in seinen größten Momenten ausmacht. Noch während er zeremoniell im Ring den Bademantel ablegt und sich auf den Kampf vorbereitet, muss der große Boxer jede Art von Vernunft und Instinkt hinter sich lassen, die ihn zur Vorsicht mahnen.
Dustin Hoffman erinnert sich an einen Boxkampf, den er als Junge gesehen hat: Als der Sieger den Ring verließ und den Gang zwischen den Zuschauerreihen entlangging, folgte ihm ein begeisterter männlicher Fan und wischte jeden Tropfen Schweiß, den er erreichen konnte, vom Körper des Boxers, um ihn an sich abzureiben.
Ein unbeteiligter Beobachter ist erstaunt, wie intensiv Boxer sich mit Boxgeschichte beschäftigen, dass sie ständig einer Galerie von Helden huldigen – oder sind es Heilige? In Muhammad Alis Trainingscamp Deer Lake in Pennsylvania waren die Namen von Schwergewichtschampions – Louis, Marciano, Liston, Patterson und andere – mit weißer Farbe auf riesige ikonografische Steinblöcke gemalt. «Jack Dempsey» nannte sich nach dem Champion im Mittelgewicht Jack Dempsey (1884 bis 1891 – der als Dempsey «The Nonpareil» bekannt war, weil er jeden besiegte, mit dem er kämpfte). «Sugar Ray» Leonard nannte sich kühn nach «Sugar Ray» Robinson – ein Wagemut, für den er sich im Nachhinein nicht zu schämen brauchte. Wenn Marvin Hagler sich den Kopf rasiert, fällt einem Rubin «Hurricane»
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