Über Boxen
Eigenschaften, die aber nicht rein maskulin sind. Gibt es einen besser in jene Zeit passenden Helden als den gnadenlosen Ex-Kneipenrüpel Jack Dempsey aus Manassa, Colorado? Das «totalitäre» Bewusstsein, das heute in den Ostblockstaaten herrscht, ist sicher ein Produkt des Staates, im westlichen Block scheint es dagegen geprägt zu sein durch die technologischen Entwicklungen, wenn nicht durch die Geschichte – durch das Gefühl eines unerbittlichen Schicksals. Wie sollen wir je diese immer komplizierter werdenden Maschinen beherrschen, wie je ihre Sprache verstehen lernen, wenn so viele von uns nicht einmal des Lesens und Schreibens mächtig sind … Das Individuum existiert durch seine physische Überlegenheit, aber kommt es auf das Individuum an?
In dem magischen Raum des Boxrings stellt man solche bestürzenden Fragen nicht. An keinem anderen öffentlichen Ort erweist sich das Individuum so sehr als ein physisches Wesen: Eine dramatische, wenn auch flüchtige Zeitspanne lang hört dort die große Welt mit ihren moralischen und politischen Komplexitäten, mit ihrer erschreckenden Unpersönlichkeit auf zu existieren. Die Männer, die sich dort oben mit nichts anderem als ihren Fäusten und ihrer List bekämpfen, durchleben alle die gleiche Zeit, sie sind alle Brüder, sie gehören keiner bestimmten historischen Zeit an. Auch die Zuschauermassen, die bei diesen Kämpfen zusammenkommen, gehören keiner historischen Zeit an … «Er kann davonlaufen, aber er kann sich nicht verstecken», sagte Joe Louis 1941 vor seinem großen Kampf gegen Conn. In dem grell erleuchteten Ring befindet sich der Mensch in einer Extremsituation, er zelebriert einen atavistischen Ritus oder einen Agon 42 , und all jene, die nur mittelbar an diesem Drama teilhaben – dem Drama des fleischgewordenen Lebens –, werden auf geheimnisvolle Weise getröstet. Boxen ist das tragische Theater Amerikas.
MIKE TYSON
22. November 1986. Als der zwanzigjährige Mike Tyson die bis auf den letzten Platz besetzte Arena des Las Vegas Hilton Convention Center betritt, durchquert er ein Meer von ohrenbetäubendem Lärm. Ein unvoreingenommener Beobachter würde sich fragen: Dieser junge Mann soll schon ein Champion sein? Ein großer Champion? Von den nahezu neuntausend Zuschauern, die die Arena füllen und für die Plätze am Ring bis zu tausend Dollar gezahlt haben, ist buchstäblich jeder in der Erwartung gekommen, einen Kampf um den Meistertitel im Schwergewicht zu sehen, der nicht nur ungewöhnlich dramatisch zu werden verspricht, sondern regelrecht Boxgeschichte schreiben wird. Sollte Tyson, wie er es angekündigt hat, den Schwergewichtstitel des World Boxing Council holen, den derzeit der dreiunddreißigjährige Trevor Berbick hält, würde er zum jüngsten Schwergewichtschampion in der schriftlich belegten Geschichte des Sports. Er würde die Prophezeiung des verstorbenen Cus D’Amato, seines Trainers, Mentors und Vormunds, erfüllen, dass er eines Tages den Rekord eines anderen von D’Amatos schwergewichtigen Wunderkindern brechen würde, den von Floyd Patterson, der den Titel 1956 kurz vor seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag geholt hat.
Als ein so junger Kämpfer ist Mike Tyson gewissermaßen schon zur Legende geworden, bevor es viel über ihn zu erzählen gab. Und nie zuvor hat sich der kollektive Wunsch einer Zuschauermenge, ihr geradezu greifbares Verlangen, machtvoller ausgedrückt als heute Abend in Las Vegas. Tyson, der eine viel besprochene Profiboxerbilanz von 27–0, davon fünfundzwanzig Siege durch Knock-out (fünfzehn in der ersten Runde, einige innerhalb von sechzig Sekunden) vorweisen kann und in den große Erwartungen als «neue Hoffnung» im Schwergewichtsboxen gesetzt werden, erinnert an den jungen Jack Dempsey, der seine spektakulärsten Kämpfe austrug, bevor er den Schwergewichtstitel gewann. Wie bei Dempsey am Beginn seiner steilen Karriere schwingt bei Tyson eine Wildheit mit, der die Seile des grell beleuchteten, erhöhten Rings mit dem Ringrichter, dem Ringarzt, den akribisch befolgten Regeln, Vorschriften, Bräuchen und Ritualen nur symbolische Grenzen setzen. Wie Dempsey besitzt Tyson die Fähigkeit, die Massen zu elektrisieren, als weckte er in ihnen nicht nur jene instinktive, brutale Aggression und den geheimnisvollen Wunsch zu verletzen, der in der menschlichen Seele haust, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, sondern auch die Vorstellung von der unanfechtbaren Gerechtigkeit dieses Instinkts: Tyson
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