Über Boxen
Kampf zwischen Hagler und Hearns 1985.
In solchen Augenblicken denkt man: Was geschieht? Warum sind wir hier? Was bedeutet das? Kann es nicht aufgehalten werden? Als ich im Film sah, wie Sonny Liston Floyd Patterson bewusstlos schlug, bekam ich das Grauen, das mich packte, nicht mit der verstandesmäßigen Einsicht in den Griff, dass der Kampf schon lange vorbei ist, Patterson sich bester Gesundheit erfreut und zurzeit einen Adoptivsohn im Boxen trainiert. (Liston ist natürlich schon Jahre tot – er starb achtunddreißigjährig unter «ungeklärten» Umständen an einer Überdosis Heroin.) Mein übles Gefühl, dass am Boxen einfach etwas falsch ist, dass es ein Fehler, eine Ungesetzlichkeit ist, die aus irgendeinem Grund vom Gesetz nicht verboten wird, war vermutlich noch berechtigter, als ich vor einigen Wochen, im März1986 , inmitten einer unvermittelt sehr still gewordenen Zuschauermenge saß, die der Fernsehübertragung eines Boxkampfs zusah, und Zeugin wurde, wie das Bantamgewicht Richie Sandoval plötzlich flach und unbeweglich auf dem Rücken lag … vermutlich tot als Folge einer äußerst harten Folge von Schlägen, die der Ringrichter nicht rechtzeitig unterbrochen hatte. Ich war überzeugt, dass alles besser sei als Boxen, alles war besser, als auch nur eine Minute länger dem Kampf zuzuschauen, es war zum Beispiel besser, den Rest des Abends auf dem Parkplatz zu verbringen und den fleckigen Asphalt anzustarren …
Ein Freund von mir, der über Sport schreibt, war gleichermaßen entsetzt über diesen Kampf. In einem Brief bemerkte er über den Abscheu, den er immer wieder vor einem Sport empfunden hatte, den er fast sein ganzes Leben verfolgt und über den er seit Jahren geschrieben hatte: «Es ist ein wenig wie eine unglückliche Liebesbeziehung – man erträgt den Schmerz und wartet auf den nächsten guten Augenblick. Und wie bei dieser Art von Beziehung kommt man an den Punkt, an dem man nicht mehr kann, an dem das, was einem ein guter Augenblick noch bringt, die ganze Mühe nicht mehr wert ist …»
Und doch lassen wir nicht ab vom Boxen, so einfach ist es nicht. Vielleicht haben wir Blut geleckt. Oder, um es weniger brutal zu sagen, Liebe, mit Hass vermischt, ist stärker als Liebe oder als Hass allein.
Menschen aus irgendwelchen Gründen gegeneinander kämpfen zu sehen – und immense Summen von Geld bei intensiv beworbenen Kämpfen sind einer dieser Gründe – ist ein Schauspiel, das einen im tiefsten Inneren verstört, denn es rührt an ein Tabu unserer Zivilisation. Viele Männer und Frauen können keinem Boxkampf zuschauen, sosehr sie sich auch abzuhärten versuchen, weil sie es sich nicht erlauben können, das zu sehen, was sie da sehen. Man denkt völlig hilflos: Das kann doch nicht sein!, noch während es, und für gewöhnlich ganz routinemäßig, bereits geschieht. In diesem Punkt ist das öffentliche Spektakel eines Boxkampfes mit Pornografie zu vergleichen: Beides macht den Zuschauer zum Voyeur, der zwar nur mittelbar, jedoch vermutlich sehr leidenschaftlich in ein Geschehen involviert ist, das nicht stattfinden darf und doch stattfindet. Das pornografische «Drama», obwohl es genauso unaufrichtig ist wie das professionelle Catchen, erhebt den Anspruch, dass es um etwas sehr Ernstes, wenn nicht gar menschlich Tiefes geht: Das Entscheidende sind nicht so sehr die pornografischen Aktivitäten als viel eher der Bruch eines Tabus, welcher an unsere Gefühle weit mehr rührt als an unsere Physis oder Sexualität. Unsere wertvollste menschliche Erfahrung, die Liebe, wird entheiligt, parodiert, verspottet – das verleiht der Pornografie in unserer Kultur eine solche Anziehungskraft. In einer anderen Kultur, die sich nicht über geistige und emotionale Werte definiert, könnte Pornografie nicht existieren, denn wer würde dafür zahlen?
Der Unterschied zwischen Pornografie und Boxen liegt auf der Hand: Boxen ist nicht inszeniert. Nur sehr selten, so selten, dass es nicht ins Gewicht fällt, ist ein Boxkampf inszeniert oder simuliert. Die Verletzung des Tabus der Gewaltanwendung («Du sollst nicht töten» in seiner ursprünglichen Form) ist unverhohlen, eindeutig und ritualisiert, und, wie ich bereits sagte, sie ist Routine – und das ist es, was Boxen so unheimlich macht. Im Gegensatz zu Pornografie (und zum professionellen Catchen) ist Boxen durch und durch real: Das Blut, das vergossen wird, die Verletzungen, der Schmerz (der meist unterdrückt oder sublimiert wird), es ist
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