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Über Boxen

Über Boxen

Titel: Über Boxen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Carol Oates
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berühmte Boxmagazin. Vergangenheit, Gegenwart und eine hypothetische Zukunft werden untersucht, und man findet dort Artikel über Themen wie «Die größten Enttäuschungen in der Geschichte des Rings», «Die größten Fehlbesetzungen», «Die berühmtesten linken Haken», «Der Sieg eines guten kleinen Mannes über einen guten großen ist möglich».)
    Es scheint so, als ob ein Boxer durch die Strapazen, die er seinem Körper zumutet, manchmal diesen Körper transzendieren kann; er kann, wenn er Glück hat, seine Sterblichkeit hinter sich lassen. Dieser Instinkt ist sicher eng verbunden mit dem Wunsch nach Ruhm und Vermögen (man denke an die legendären Champions in ihren violetten Cadillacs!), aber er ist am Ende nicht damit identisch. Wenn der Ring ein Altar ist, so ist er nicht allein ein Altar, auf dem Opfer dargebracht werden, sondern einer, an dem eine Wandlung stattfindet, eine Erlösung. Manchmal.
    Ich studiere im zweiten Jahr an einem Campus im nördlichen Teil des Staates New York, und während des Semesters trainiere ich fünfmal in der Woche in einem Studio in der Stadt. In diesem Studio herrscht eine vollkommen andere Atmosphäre als an der Universität. Durch das Boxen schaffe ich es, Aggressionen abzubauen … Mein erster Amateurkampf steht mir noch bevor. Mein Trainer sagt, dass ich beim Sparring nicht so wirke, als wolle ich meinen Gegner verletzen. «Du musst es aber wollen, denn er wird es tun.» Ich fürchte, dass dieses Fehlen von Blutdurst daher kommt, dass ich Angst habe, zu weit zu gehen, körperlich und/oder geistig. Sosehr ich mich im Studio dazu zwinge, irgendetwas in mir hält mich zurück …
    Ich weiß nicht, was mich ursprünglich am Boxen faszinierte. In meinem Bekanntenkreis gibt es niemanden, der sich dafür auch nur im Geringsten interessiert.
    Was als eine Spielerei anfing, wurde schnell zu einer Art Besessenheit … In den Weihnachtsferien machte ich eine schlechte Erfahrung; so etwas möchte ich nicht noch einmal erleben. Der Trainer erlaubte mir, ein wenig mit dem Team zu trainieren, und ich geriet gleich am ersten Abend an einen Sparringspartner, der weit erfahrener war als ich. Drei Runden lang steckte ich Schläge ein, ging nie zu Boden, aber er gab es mir, meist Jabs, die in der Nasengegend landeten, und gegen Ende der zweiten Runde war ich sicher, dass meine Nase gebrochen war. Nach dem Training sagte mir der Trainer, ich hätte «Herz». Putz dir nicht die Nase, sagte er, sonst bekommst du einen Bluterguss in den Augen, und sei morgen wieder da. Auf der Heimfahrt war mir klar, «Herz» zu haben konnte nur heißen, wahnsinnig oder dumm zu sein oder beides, aber noch immer war die Welle der Euphorie stärker als die Furcht und das Zittern, das mich überkommen hatte, bevor ich in den Ring stieg. Und sie war stärker als die unangenehme Vorstellung, meinen Eltern in diesem Zustand gegenübertreten zu müssen. Mehrere Tage lang verließ ich nicht das Haus, ich war deprimiert, es war mir peinlich. Ich dachte, dass Boxen das alles womöglich gar nicht wert sei, dass ich es vielleicht einfach nicht hinkriegte, und ich befürchtete, dass mein gutes Aussehen dahin sei. Mein Gesicht schwoll bis zur Unkenntlichkeit an, und noch Monate danach waren meine Augen blutunterlaufen …
    Letztes Semester belegte ich einen Einführungskurs in Poesie, und in diesem Kurs bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass ich meine Gefühle und meine Gedanken über das Boxen am besten vermitteln kann, indem ich selbst Gedichte schreibe …
    Ausschnitte aus Briefen eines jungen Boxers an die Autorin
    Wenn man je meinen kahlen Kopf aufschneidet, wird man darin einen großen Boxhandschuh finden. Das ist alles, was ich bin. Es ist mein Leben .
    Marvin Hagler
    Obwohl Boxen in vielen Ländern schon seit Langem beliebt ist und unter den verschiedensten Regierungsformen, Diktaturen wie Demokratien, nichts von seiner Popularität eingebüßt hat, hängt seine Beliebtheit in den Vereinigten Staaten seit der Zeit von John L. Sullivan sicher damit zusammen, dass dort ein gewisser Individualismus, eine Art «körperliche» Unabhängigkeit, die dem Staat die Stirn bietet, hohes Ansehen genießt. Den bemerkenswerten Aufstieg des Boxens, besonders in den Zwanzigerjahren, kann man als eine Folge individueller Einschränkungen zugunsten der Gesellschaft interpretieren, einer schrittweisen Einengung persönlicher Freiheit, persönlichen Willens, persönlicher Kraft – als «maskulin» interpretierte

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