Über Boxen
Lebens hingearbeitet hat, zeigt er keinerlei Anzeichen von Nervosität und wird später sagen, er sei «ruhig» und «entspannt» gewesen, weil er gewusst habe, dass er nicht scheitern könne.
Als der Trainer Kevin Rooney – auch er ein Schützling von D’Amato – Tyson letzte Anweisungen gibt, lehnt er seine Stirn gegen die von Tyson und küsst ihn leicht auf die Wange. (Wer mit der unheimlichen Kombination von Gewalt und kindlicher Zuneigung beim Boxen nicht vertraut ist, erschrickt unweigerlich über solche Gesten, wie auch darüber, dass sich die Boxer nach dem letzten Gong oft plötzlich umarmen und einander für den Kampf danken. Doch ein solches Verhalten, ebenso spontan wie traditionell, ebenso natürlich wie scheinbar widersprüchlich, liegt eben im Wesen des Boxens.) Sobald der Gong ertönt und die erste Runde freigegeben ist, stürzt Tyson aus seiner Ecke hervor, um sich über Berbick herzumachen. In diesen quirligen Sekunden, in denen viel mehr geschieht, als das Auge, geschweige denn das verbalisierende Bewusstsein wahrzunehmen vermag, wird klar, dass Tyson der Stärkere ist, der Dominierende – und dass er weiß, was er tut. Ohne Rücksicht auf Berbicks höheres Alter und größere Erfahrung stößt er vor; dieser Kampf muss sein Kampf werden. Wenn man Boxen nicht nur als einen Wettstreit der körperlichen Fähigkeiten, sondern auch der Psyche begreift, wird einem bald klar, dass Tyson im Angriff mit seinen wunderschön kontrollierten Schlägen der überlegene Boxer ist, und er ist flink – überraschend flink. «Dieser Kerl lässt einen nicht tun, was man tun will», wird Berbicks Trainer nach dem Kampf sagen. «Er hat Druck gemacht, und mein Junge hat auf den Druck nicht reagiert … Er schlägt Kombinationen, die ich noch nie gesehen habe. Hat man je erlebt, dass einer eine rechte Gerade gegen die Niere schlägt, in der Mitte einen Aufwärtshaken anbringt und dann einen linken Haken platziert? Der feuert … wie ein Maschinengewehr.» (Dies steht in auffallendem Gegensatz zu Tysons weniger erfolgreichen Auftritten gegen José Ribalta im August 1986 und James «Quick» Tillis im Mai. Bemerkenswert, wie sehr er sich in so kurzer Zeit verbessert hat.) Für alle, die die Vorkämpfe der letzten zweieinhalb Stunden gesehen haben, darunter einen äußerst beherrschten, aber glanzlosen, wenn nicht sogar blasierten Auftritt des früheren WTC -Champions Pinklon Thomas, ist Tysons Kampfstil – man könnte sogar sagen Tysons Präsenz – überwältigend. Die Wirkung mancher seiner Körpertreffer spürt man noch in den hintersten Reihen der Arena, er kämpft mit beispielloser Intensität. Jemand hat gesagt, Tysons Schläge hörten sich sogar anders an als die anderer Boxer. Im Ring, während der schrecklichen Anspannung des Kampfes, wirkt Tyson einerseits einzigartig, andererseits aber auch stilisiert wie die symbolhaften Kämpfergestalten auf George Bellows’ berühmten Ölgemälden «Stag at Sharkey’s» und «Dempsey and Firpo» 1 . Plötzlich ist es denkbar, dass Tyson, wie Cus D’Amato es vorhergesagt hat, sich nicht nur graduell, sondern auch in seiner grundsätzlichen Beschaffenheit von seinen Boxerkollegen unterscheidet.
Zu Beginn der zweiten Runde schlägt Tyson Berbick mit einer mächtigen Kombination, darunter einem linken Haken, zu Boden; als Berbick sich tapfer hochrappelt, wird er mit einem linken Haken gegen den Kopf – genauer gesagt gegen die rechte Schläfe, einen «lebenswichtigen Punkt» – ein zweites Mal niedergeschlagen. (Wie Tyson nachher sagen wird, ist er angetreten, den Champion zu «vernichten»: «Jeder Schlag geschah in mörderischer Absicht.») Begleitet vom wilden Gebrüll der Menge wie von einer exotischen Musik, müht sich Berbick mit glasigem Blick, als hielte ihn ein Traum umfangen, wieder auf die Füße; er torkelt auf wackligen Beinen durch den Ring, fällt wieder in die Seile, kommt durch bloße Willenskraft hoch, stolpert in die andere Richtung und hält sich nur noch mühsam aufrecht, als Ringrichter Mills Lane den Kampf abbricht. Nur neun Sekunden sind seit Tysons Schlag vergangen, aber die Szene kam einem viel länger vor, wie in Zeitlupe … Das albtraumhafte Bild eines Mannes, der vor neuntausend Augenzeugen darum kämpft, das Bewusstsein und die Kontrolle über seinen Körper zu behalten, wird im Gedächtnis haften bleiben. Dieser Anblick ist beim Boxen so unvermeidlich wie der des siegestrunkenen Boxers, der triumphierend die behandschuhten
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