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Über Boxen

Über Boxen

Titel: Über Boxen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Carol Oates
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Hände in die Luft reckt.
    Nach zwei Minuten und fünfunddreißig Sekunden in der zweiten Runde ist der Kampf vorüber, und der zwanzigjährige Mike Tyson ist neuer WBC -Champion. «Ich bin Weltmeister im Schwergewicht», sagt er zu den Zuschauern an den Bildschirmen, «und ich werde gegen jeden auf Erden kämpfen.»
    Die Post-Ali-Ära ist endgültig abgeschlossen.
    Boxen ist der umstrittenste Sport in Amerika, er scheint immer kurz davor, abgeschafft zu werden. Seine Kritiker sprechen verächtlich von einem «sogenannten Sport», und das hat tatsächlich eine gewisse Logik: Wenn «Sport» ein harmloses Spiel bedeutet, ist Boxen kein Sport, denn es ist ganz bestimmt kein Spiel. Aber «Sport» kann ein Paradigma für das Leben sein, eine Reduzierung seiner Vielschichtigkeit auf eine einzige symbolische Handlung – in diesem Fall auf das Konkurrenzdenken, auf die Grausamkeit des darwinschen Prinzips, bestimmt und gezügelt durch eine Anzahl von Regeln, Vorschriften und Bräuchen. Insofern ist Boxen vielleicht tatsächlich der Sport, auf den alle anderen Sportarten hinauslaufen, wie der ehemalige Schwergewichtschampion George Foreman gesagt hat. Es ist die Quintessenz, das Urbild des menschlichen Kampfes (nicht nur des männlichen) gegen andere und gegen das eigene gespaltene Ich. Der Vergleich mit den römischen Gladiatorenkämpfen, bei denen die Besiegten gewöhnlich zu Tode kamen, ist historisch nicht korrekt, aber poetisch passend. In seinem Klassiker «Theorie der feinen Leute» (1899) bezeichnet Thorstein Veblen 2 den Sport im Allgemeinen als «Ausdruck des barbarischen Temperaments», und viele Boxer, besonders junge wie Mike Tyson, gehen davon aus, dass sie im Ring um ihr Leben kämpfen. Nach dem Kampf gegen Berbick sagte Tyson erregt: «Ich wollte nicht verletzt werden, ich wollte nicht niedergeschlagen werden, ich wollte nicht verlieren – da hätte ich schon getötet und aus dem Ring getragen werden müssen. Ich habe mich einfach geweigert, verletzt zu werden.»
    Man sollte sich jedoch vor Augen führen, dass Boxen trotz seines negativen Images und mancher unheilvoll-faszinierender Ausschreitungen nicht unser gefährlichster Sport ist. Es rangiert etwa auf Platz sieben, nach Football, Pferderennen, Autorennen, Bergsteigen und anderen. Es ist weit weniger systematisch gewalttätig als zum Beispiel der Profifootball, bei dem in einer einzigen Saison wahrscheinlich Hunderte von Spielern für absichtliche Regelverletzungen bestraft werden. Und in unserer Zeit eines noch nie da gewesenen Sportwahns bleibt Boxen der einzige wichtige Sport, der für diejenigen zugänglich ist, die man so salbungsvoll-beschönigend als «unterprivilegierte Jugend» bezeichnet – alle anderen Sportarten werden vom Establishment beherrscht und abgeriegelt, damit Männer mit dem sozialen Hintergrund eines Larry Holmes, Hector Camacho, Marvin Hagler und Mike Tyson erst gar nicht eindringen können.
    Auf jeden Fall wird Boxen seit jeher, von den Tagen des Bare-knuckle -Preiskampfes bis in die Gegenwart, leidenschaftlich gehasst. Das Bild von Männern, die einander im Einzelkampf gegenüberstehen, ist zu schonungslos, zu extrem, um von der «zivilisierten» Gesellschaft akzeptiert zu werden. «Wir spielen eben nicht Klavier, wir kämpfen», hat der Weltergewichtschampion Fritzie Zivic einmal gesagt.
    «Ja, ich kämpfe im Ring um mein Leben», sagt Mike Tyson zu mir. Und: «Ich liebe das Boxen.» Und ein bisschen später: «Ob ich ein geborener Boxer bin? Nein, dann wäre ich ja perfekt.»
    Wenn man ihm persönlich gegenübersitzt, strahlt Mike Tyson eine intensive Körperlichkeit aus. Er ist zurückhaltend, setzt seine Worte vorsichtig, verhält sich gegenüber Fremden skeptisch, aber ausnahmslos höflich. Seine Intelligenz äußert sich chiffriert, wie durch eine Maske – wenn auch nicht wie im Ring durch die Maske des Totenkopfes, die die Gegner so einschüchtert. Zweifellos hat er in Situationen wie dieser – einem Interview, einem von zahllosen, die ihm sein stetig wachsender Ruhm aufzwingt – die klassische Ermahnung des Ringrichters im Ohr: «Protect yourself at all times!» 3 Schwer vorstellbar, dass Tyson sich als Berühmtheit jemals so zutiefst – so narzisstisch – wohlfühlen wird wie Muhammad Ali und Sugar Ray Leonard.
    Tyson ist ein junger Mann, ein Phänomen mit – nun ja, paradoxen Eigenschaften, komplizierter und selbstreflektierender, als er in der Öffentlichkeit zuzugeben bereit scheint. Mit seinem

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