Über Boxen
verkörpert nicht den vom Establishment anerkannten Olympiasieger wie Muhammad Ali oder Sugar Ray Leonard (in Boxkreisen heißt es sogar, dass Tyson bei den Olympischen Sommerspielen 1984 durch die Vorschriften des Amateurboxens um eine Goldmedaille geprellt worden ist), sondern den Außenseiter, den Gesetzlosen mit den übernatürlichen Kräften, den hungrigen jungen Schwarzen, der alles fordert, was das weiße Amerika zu geben hat. In einer Gewichtsklasse, in der es auf harte Schläge ankommt, hat sich Tyson den Ruf eines Furcht einflößenden Kämpfers erworben, von seinen Zeitgenossen ebenso bewundert und gefürchtet wie seinerzeit Sonny Liston, George Foreman und Rocky Marciano. Man hat ihn einen «Panzer» genannt, einen «jungen Bullen», einen «Killer» und einen «Felsblock», eine Kraft, die so urtümlich und unwiderstehlich ist wie die Natur. Ein Beobachter fand, Tysons Kämpfe erinnerten an einen Comic – die Gewalt sei derart übertrieben, dass sie schon etwas Surreales habe. Gegner werden durch den Ring gejagt, fallen bewusstlos in die Seile oder verlieren, auch wenn sie noch bei Bewusstsein sind, die Kontrolle über ihre Beinmuskeln; sie liegen scheinbar sehr lange reglos am Boden. Die Gewalt mag urtümlich und surrealistisch wirken, aber sie wird überlegt eingesetzt. Wie Tyson mit seiner leisen, ernsten, jungenhaften Stimme bedächtig erklärt, ist sie das Ergebnis von Schlägen, die «gezielt auf lebenswichtige Punkte» ausgeführt werden. Cus D’Amato war unter anderem ein «Meister in Anatomie».
Tyson selbst hat sich über das Phänomen Mike Tyson in Begriffen aus der Welt der Gladiatoren geäußert: Das Gelübde des Kämpfers, wenn nötig bis zum Tod zu kämpfen, schließe alle persönlichen Beweggründe aus und mache alle konventionellen Rechtfertigungen für sein Tun belanglos. Boxen sei sein Leben, sein Beruf, seine Berufung. Die stolzen römischen munera sine missione – Gladiatorenkämpfe ohne Begnadigung – erschienen ihm als etwas Selbstverständliches. In den knapp achtzehn Monaten seines Daseins als Profisportler hat der junge Boxer eine gewaltige Faszination erlangt; sein Auftreten im Ring heute Abend in Las Vegas, seine bloße körperliche Anwesenheit fesselt die Menge so sehr, dass der Auftritt des amtierenden WBC -Champions Trevor Berbick nahezu unbemerkt bleibt. Selbst die Zirkusmusik vom Tonband schweigt plötzlich und rätselhafterweise.
Mike Tyson – in letzter Zeit als «Kid Dynamite» angekündigt – ist umgeben von einer Aura aus Spannung, Selbstbeherrschung und grimmiger Konzentration. Mit einer Körpergröße von 1,80 Meter ist er für einen Schwergewichtler klein und erscheint dem Auge noch kleiner, weil sein hundert Kilogramm schwerer Körper so muskulös ist, dass er perspektivisch verkürzt wirkt, brutal kompakt. Berbick wiegt neunundneunzig Kilo, misst 1,88 Meter − kein großer Mann nach den heutigen Schwergewichtsstandards − und hat einen beängstigenden Reichweitenvorteil von achtzehn Zentimetern. Tyson mit seinen wie gemeißelten Muskeln gleicht tatsächlich eher einem Bodybuilder als einem Boxer, für den ein beweglicher Oberkörper entscheidend ist; sein Halsumfang misst außergewöhnliche achtundvierzig Zentimeter, mehr als der aller anderen Schwergewichtschampions seit Primo Carnera, der im Zirkus als Kraftmensch auftrat. Sein Haar ist rabiat kurz geschnitten, im Stil von Dempsey hinten und seitlich wie abrasiert; er trägt keinen Mantel, sondern einen derben weißen Frotteepullover, der aussieht wie selbst genäht, und wie gewöhnlich keine Socken («So fühle ich mich mehr als Kämpfer»); und obwohl die Nevada State Athletic Commission seinen Managern Jim Jacobs und Bill Cayton für diese Extrawurst fünftausend Dollar Strafe aufbrummen wird, trägt Tyson die schwarzen Shorts, die sein Markenzeichen geworden sind. Auch Trevor Berbick, der normalerweise Weiß trägt, hat für seine Hose Schwarz gewählt – wahrscheinlich, weil er sich über die außergewöhnliche Popularität ärgert, die Tyson schon im Vorfeld des Kampfes erlangt hat, und über die demütigende Tatsache, dass die Wetten heute Abend 3:1 auf den Sieg des jungen Herausforderers stehen, obwohl der noch nie zuvor einen Gegner von Berbicks Statur gehabt hat. Tyson steht weiterhin im Mittelpunkt der allgemeinen gespannten Aufmerksamkeit. Er ist aufgekratzt, schweißbedeckt, kampfbereit. Obwohl dies die Stunde, ja der Augenblick ist, auf den er die letzten sechs Jahre seines
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