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Über Boxen

Über Boxen

Titel: Über Boxen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Carol Oates
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würde dem widersprechen? Mit das Faszinierendste an diesem jungen Weltmeister ist die körperliche «Unsterblichkeit», die er ausstrahlt, eine Art faszinierende Unschuld.
    Als man ihn nach dem Berbick-Kampf fragte, warum ihm so viel daran liege, einen Rekord aufzustellen, «der niemals gebrochen wird», sagte Tyson: «Ich will unsterblich sein! Ich will ewig leben!» Natürlich sollte das ein Scherz sein – gegenüber der Presse witzelt er oft so. Aber gleichzeitig meinte er es todernst.
    Er ist katholisch getauft, praktiziert aber nicht mehr. Doch er glaubt an Gott, sagt er. Was das Leben nach dem Tod betrifft: «Wenn man tot ist, ist es aus.» Bereitwillig gibt er zu, dass er mit zwölf Jahren außerordentlich großes, fast an ein Wunder grenzendes Glück gehabt hat, was sein ganzes Leben verändert hat. Er war ein besonders unglücklicher Insasse der Erziehungsanstalt Tryon School for Boys in Johnstown, New York, in die man ihn nach diversen, in Brownsville (Brooklyn) begangenen Diebstählen und Raubüberfällen gesteckt hatte, als der alte Cus D’Amato auf ihn aufmerksam wurde, der laut den Aussagen zahlreicher Zeitgenossen offenbar die übersinnlichen Fähigkeiten eines Zenmeisters besaß. Cus D’Amato war ein Boxtrainer par excellence, der in den Fünfzigerjahren bereits einen anderen jugendlichen Straftäter, Floyd Patterson, zu einem Wunderkind-Schwergewichtschampion herangebildet und José Torres, den Weltmeister im Halbschwergewicht 1965 bis 1966 und derzeitigen Vorsitzenden der New York State Boxing Commission, als Amateurboxer in Puerto Rico entdeckt hatte. Er besaß ein Studio über der Polizeiwache von Catskill, New York, und als er dort den dreizehnjährigen, untrainierten Tyson ein paar Runden boxen gesehen hatte, soll er zu einem Boxlehrer der Tryon School gesagt haben: «Der wird mal Weltmeister im Schwergewicht. Er muss es nur wollen.»
    So etwas klingt natürlich sehr nach Legende. Aber wie es der Zufall will, ist es wahr. Der frühreife Kriminellenlehrling – Tyson wanderte zum ersten Mal mit zehn Jahren hinter Gitter – wird Schützling von einem der bedeutendsten Trainer der Boxgeschichte, er kommt in D’Amatos Obhut und wird zwei Jahre später offiziell von ihm adoptiert; er wohnt, trainiert und – das Wichtigste – bekommt zu essen in einem Vierzehnzimmerhaus in Catskill, New York, in dem auch D’Amato und seine Schwägerin Camille Ewald leben, fern von der zerstörerischen Atmosphäre des schwarzen Gettos, wo der junge Mike Tyson seiner eigenen Aussage zufolge dem Untergang geweiht gewesen wäre. «Cus war mein Vater, aber er war mehr als ein Vater», sagt Tyson. «Man kann einen Vater haben, aber was heißt das schon? In Wirklichkeit heißt das gar nichts. Cus war mein wichtigster Halt … Er hat alles getan, um mir zu helfen. Wir waren immer beisammen, haben über Dinge gesprochen, die mir dann später wieder einfielen. Zum Beispiel über Charakter und Mut. Oder über Helden und Feiglinge. Dass der Held und der Feigling dasselbe fühlen, aber der Held nutzt seine Angst, er projiziert sie auf den Gegner, und der Feigling läuft davon. Sie empfinden dasselbe, nämlich Angst, aber entscheidend ist, was man daraus macht.» (Jim Jacobs erklärt mir später, dass aus vielem, was Tyson sagt, Cus D’Amato spricht; das gilt auch für vieles, was er selbst sagt.)
    Ganz abgesehen von seinem Genie als Boxtrainer scheint D’Amato auch ein genialer Vermittler ideeller Werte gewesen zu sein, wenn die Begriffe «Genie» und «genial» in diesem Zusammenhang nicht unangemessen klingen. Wie ein treu sorgender, gewissenhafter Mentor brachte er Tyson und zweifelsohne auch seinen anderen halbwüchsigen boxenden Jüngern die Bedeutung immaterieller Qualitäten bei: Selbstverleugnung, Disziplin, Willen, Integrität, Unabhängigkeit, «Charakter». D’Amato war überzeugt, dass am Ende der Charakter eines Boxers entscheidender sei als seine Geschicklichkeit; eine Auffassung, die wir im Ring nur bei den zähesten Kämpfen bestätigt finden – man denke an das buchstäblich shakespearische Ringen im ersten Kampf zwischen Ali und Frazier, an die Begegnung Louis/Conn 1941 oder an die von Leonard und Hearns. Vor allem aber flößte D’Amato Tyson einen unerschütterlichen Glauben an sich selbst ein, das war sein kostbarstes, geheimnisvollstes Geschenk. «Er sagte, ich würde der jüngste Schwergewichtler der Geschichte werden», sagt Tyson staunend, «und was er sagte, ist wahr geworden. Cus hat

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