Über Boxen
es die ganze Zeit gewusst.»
Für D’Amatos treuen Freund Jim Jacobs, einen hoch angesehenen Boxmanager, der in seinem Archiv sechsundzwanzigtausend Boxfilme hortet, hatte seinerzeit D’Amatos Hinweis, Tyson sei vielversprechend, genügt; es gab niemanden auf der Welt, dessen Urteil er mehr vertraut hätte. «Cus sagte, Mike Tyson werde einmal Weltmeister im Schwergewicht, mehr brauchte ich nicht zu wissen.» Er habe D’Amatos Stimme und seine Anweisungen hinsichtlich der Erziehung des jungen Schwergewichts derart verinnerlicht, dass er beim Nachdenken darüber, was zu tun sei, nur «auf einen Knopf in meinem Kopf drücken muss, dann höre ich Cus mit mir reden. Ich tue haargenau das, was Cus anordnet.»
Wenn Tyson D’Amato als Vater betrachtet hat – Tysons «echter» Vater scheint in seinem Leben keine Rolle gespielt zu haben –, so hat andererseits auch D’Amato in Tyson einen Sohn gesehen. In einem Interview für «People» kurz vor seinem Tod sagte D’Amato zu William Plummer, der Junge bedeute ihm alles. «Ohne ihn würde ich heute wahrscheinlich gar nicht mehr leben. Ich bin überzeugt, dass die Natur viel schlauer ist, als wir alle glauben. Im Lauf des Lebens sammelt der Mensch viele Freunde und Freuden, an denen ihm liegt. Dann nimmt die Natur sie ihm langsam und der Reihe nach weg. Auf diese Weise bereitet sie ihn auf den Tod vor. Ich habe an nichts mehr Freude gehabt. Meine Freunde waren gestorben, ich habe nicht mehr gut gehört, ich habe nicht mehr deutlich gesehen, nur noch in der Erinnerung … Also sagte ich mir, ich muss mich wohl auf den Tod vorbereiten. Dann kam Mike daher. Dass er hier ist und das tut, was er tut, ist für mich Grund genug, am Leben zu bleiben.» Obwohl D’Amato im November 1985 im Alter von siebenundsiebzig Jahren an einer Lungenentzündung starb, etwa ein Jahr, bevor Tyson der jüngste Schwergewichtschampion aller Zeiten wurde, scheint er in Tysons Herzen noch immer zu leben. Weiter kann der Glaube eines Menschen an einen anderen nicht gehen.
Dennoch wäre es ungenau, wenn man sagte, Mike Tyson sei einzig und allein D’Amatos Geschöpf. Hinter seiner anfänglichen Schüchternheit verbirgt sich eine schnelle, rastlose Intelligenz; selbst die Wechselfälle seines früheren Lebens kann er mit Humor nehmen. Über seine Jahre als kindlicher Krimineller – als jüngstes Bandenmitglied wurde er oft damit betraut, während der Raubüberfälle die Waffe zu halten – hat er gesagt: «Bitte glauben Sie nicht, dass ich wirklich schlimm gewesen bin. Ich habe geraubt und gestohlen, aber andere haben noch Schlimmeres getan, sie haben Leute umgebracht.» Zeitweise lebte Tyson in Bedford-Stuyvesant auf der Straße und schlief wie ein Wolfskind in leer stehenden Gebäuden. Als er mit elf Jahren festgenommen und in die Tryon School for Boys abgeschoben wurde, konnte niemand ahnen, dass man ihm damit ironischerweise das Leben rettete. Er war gewalttätig, depressiv, stumm; einer der störrischsten unter den «unverbesserlichen» Jungen. Als er einmal ausbrach, brauchte es mehrere erwachsene Männer, um ihn zu überwältigen. Ein Beamter erinnert sich, dass man ihn in Handschellen abschleppte und anschließend in Einzelhaft steckte.
Mike Tysons Werdegang erinnert mich an jene märchenhaften Erzählungen von ausgesetzten Kindern, die in der europäischen Fantasie eine so große Rolle spielen: Kaspar Hauser in Nürnberg und das Wilde Kind von Aveyron. Solche Geschichten appellieren an unseren Sinn für das Wunderbare, Geheimnisvolle und Schaurige und an unsere kollektive Schuld. Diese Kinder, ausnahmslos Jungen, sind «natürlich» und «wild»; sie sind nicht eigentlich stumm, haben aber nie sprechen gelernt, und sie haben nicht einmal ansatzweise eine Ahnung von zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie sind heimatlos, elternlos, namenlos und können nur durch einen hingebungsvollen väterlichen Lehrer, ähnlich wie Tysons Cus, «erlöst» werden. Doch selbst die Liebe schaffte es nicht, den auf geheimnisvolle Weise todgeweihten Kaspar Hauser zu retten, dessen Geschichte ebenso abrupt und tragisch endete, wie sie begonnen hatte. Und das Wilde Kind von Aveyron verlor seine Seelenfrische in dem Maße, wie es die Sprache und den Umgang mit anderen Menschen erlernte.
Tysons Gefühle für seine Vergangenheit haben indes nichts Wehmütiges. Viele seiner Freunde aus der Kindheit sind im Gefängnis oder tot, beide Eltern sind bereits verstorben; er hat eine ältere Schwester und einen
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