Über Boxen
jungenhaften Zahnlückenlächeln und seiner ernsten Stimme hat er den Spekulationen über seine Zukunft als frühreifer Weltmeister den Wind aus den Segeln genommen, indem er den Reportern immer wieder sagte, sein Leben sei ganz einfach. «Sie glauben nicht, wie einfach! Ich bin zu jung, um mir groß Sorgen zu machen. Sollen sich die anderen sorgen.» Das bedeutet, dass alles Geschäftliche von den Managern Jim Jacobs und Bill Cayton von Big Fights Inc. und seinem Trainer Kevin Rooney geregelt wird, und zwar, wie es aussieht, äußerst geschickt. Wenn ihn die Medien einen boy champion nennen, akzeptiert er das stillschweigend; er spricht von sich selbst (und offenbar ohne damit zu kokettieren) als kid , dessen Karriere ein Meisterwerk unter der Anleitung von anderen ist, vor allem natürlich unter der des verstorbenen Cus D’Amato. «Cus hat die Grundlage zu Mikes Karriere gelegt», erzählt mir Jim Jacobs. «Und damit meine ich die Grundlage zu Mikes gesamter zukünftiger Karriere.» Die Beziehung des jungen Boxers zu seinen Betreuern und seiner «Familie» – einer vertrauten, wenn auch nicht blutsverwandten Gruppe von Männern und Frauen, die über D’Amato zueinandergefunden haben – gestattet ihm Freiheit innerhalb der Disziplin wie einem musikalischen Wunderkind, dessen Lehrer und Eltern es eifersüchtig vor der Außenwelt schützen. Und während ich in Gegenwart von Jim und Loraine Jacobs mit Mike Tyson spreche (das Interview findet in der Wohnung der Jacobs’ in den East Forties von Manhattan statt, inmitten von Box-Memorabilien, unter anderem einer ganzen Wand voller Filme und Tonbänder), wird bald klar, dass er sich seines Glücks durchaus bewusst ist. Er begreift, dass seine emotionale und berufliche Situation in der berüchtigt unsentimentalen Welt des Profiboxens nahezu einzigartig ist. Er wird von seiner Familie geliebt und liebt sie, so einfach ist das – und so beneidenswert. Mike Tyson mag wie andere Sportstars heutzutage in gewisser Hinsicht ein Kind sein, aber ebenso gut ist er ein – allerdings auf unheimliche Weise – voll entwickelter Mann, ein Zwanzigjähriger, wie ich ihm noch nie begegnet bin.
«Ich bin glücklich, wenn ich kämpfe. Schon tagsüber, wenn der Kampf vor mir liegt, bin ich glücklich», sagt er. Mit seinem schwarzen Pullover aus Wolle und Leder, der schwarzen Cordhose und dem juwelenbesetzten goldenen Armband sieht Mike Tyson ganz anders aus als der Mann, der vor sieben Tagen in Las Vegas Trevor Berbick «vernichtet» hat. Ganz anders auch als die glorifizierenden Fotos, die hierzulande und im Ausland erschienen sind. (Die Japaner sind von Tyson begeistert, sein Foto stand nicht nur auf den Titelseiten der Sportzeitschriften, sondern auch von Film- und Nachrichtenmagazinen. Wie kann man sich seine Beliebtheit dort, wo er nie gewesen ist, erklären? Tyson lächelt und zuckt die Schultern. «Keine Ahnung.») Loraine Jacobs zeigt mir ein bemerkenswertes Foto von Ken Regan, auf dem Tyson in Shorts, in dämonischem Halbdunkel und von einem Lichtsaum umgeben, aussieht wie eine Statue oder ein Roboter – eine Hightech-Fantasy-Figur, die schiere männliche Bedrohung und Aggression. Ich frage Tyson, was er von seinem Image hält – kommt es ihm eigenartig vor, neben einem fremden Ich zu leben, einem anderen «Mike Tyson»? Tyson murmelt etwas vage Philosophisches wie «Was soll man da machen?». Dennoch wird klar, dass auch er von dem Phänomen Tyson fasziniert ist; etwas später sagt er, er fände es interessant, wenn er bei einem seiner eigenen Kämpfe gleichzeitig unter den Zuschauern sitzen könnte, dort, wo es richtig aufregend ist. Im Ring, im Brennpunkt des Kampfes, spürt sich der Boxer nicht mehr; was dem Zuschauer als emotional aufgeladener Vorgang erscheint, ist kühl kalkulierte Technik. Wenn Tyson Angst bekommt, was ihm zugegebenermaßen passiert, projiziert er seine Angst auf den Gegner, wie Cus D’Amato es ihm beigebracht hat. Aber auf Mike Tysons Gesicht sind nicht oft Gefühle zu sehen.
Wenn Tyson im Ring glücklich ist – anders als viele Boxer, die ihr Lebenswerk im Lauf der Jahre verabscheuen und fürchten –, so vielleicht deshalb, weil er noch nie verletzt, noch nie ernsthaft getroffen worden ist; er hat noch nie gegen einen Gegner gekämpft, der ihm in jeder Hinsicht gewachsen gewesen wäre. (Gibt es so einen? Zurzeit? Tyson und die Seinen glauben es nicht.) Im Alter von zwanzig hält er sich für unverwundbar, und welcher seiner Zuschauer
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